Die Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1985 hatte auch enorme Auswirkungen auf das sowjetische Kulturleben. So konnte Alfred Schnittke (1934-98) in den ersten Jahre von Glasnost seine 12 Stichi Pokajanije (Zwölf Bußverse, 1988) für die Feierlichkeiten zum tausendsten Jahrestag der Christianisierung Russlands schreiben. Die Texte für sein Werk entnahm er einer Sammlung apokrypher und anonymer Gedichte, die 1986 in Moskau veröffentlicht worden waren. In diesen russischen Texten von Mönchen aus dem 16. Jahrhundert geht es um begangene Sünden und Sühne.

Daniel Reuss dirigiert Cappella Amsterdam bei CD-Aufnahmen (2022)
© Diederik Rooker

Schnittke stellt deutlich den Text in den Mittelpunkt. Dessen metrische Struktur bestimmt die fließende melodische Form dieser in Länge und Ausdruck sehr unterschiedlichen Gesänge. Die Stimmung wechselt dabei zwischen Düsternis und Ekstase, zwischen harten Dissonanten und wohliger Harmonik. In den Momenten, in denen der Text Gott anruft (meist in der göttlichen Tonart G-Dur), weicht die moderne Kargheit plötzlich einer wohlwollenden Wärme, als ob die Sonne plötzlich durchbricht.

Der erste Vers, Adam saß weinend an der Pforte des Paradieses, wurde nur von neun Bässen gesungen und entführte das Publikum in die meditative Atmosphäre orthodoxer Kloster. Der düstere Beginn stimmte einfühlsam ein auf eine vielschichtige musikalische Reise in die Vergangenheit. Den nächsten Vers, O Wildnis, führe mich zusammen mit deiner Stille und Zärtlichkeit, begann ein Tenor. Seine wiederholte Melodie wurde von der 30-köpfigen Cappella Amsterdam erst sanft begleitet, dann übernommen und kompliziert verarbeitet und in der Folge zu einem überraschend harmonischen Ende transformiert.

In Darum lebe ich in Armut strahlten die hell leuchtenden Soprane. Erst hier fiel mir auf, dass die Saalbeleuchtung im Leidener Stadsgehoorzaal noch nicht gedimmt war, was erst passenderweise nach dem Schluss passierte.

Der neunte Vers, Ich dachte nach über mein Leben als Mönch, war zum zweiten Mal ein großes Tenorsolo. Als stimmungsvolles Gerüst hielten die Bässe darunter einen gesummten tiefen Generalbasston. Dem wechselvollen Klagesang folgte wiederum ein harmonisches Ende. Im folgenden Christenmenschen, kommt zusammen setzten die Soprane ihre kompliziert hohen Töne mit viel Schärfe an. Chefdirigent Daniel Reuss hielt hier mit deutlich rhtythmischem Schlag die Zügel fest in der Hand.

Cappella Amsterdam bei CD-Aufnahmen (2022)
© Diederik Rooker

Auch bei Ich trat ein in das tränenreiche Leben als nacktes Kind war dem Tutti eine einzelne Tenorstimme aus dem Chor gegenübergestellt. Die traurig-einsame Stimmung unterstrich Schnittke mit stufenweise herabfallenden Clustern im gesamten Chor.

Schnittkes emotionale Bußverse gehen durch Mark und Bein. Der abschließende, wortlos gesungene Psalm musste mit geschlossenem Mund gesungen werden. Der vielbeschäftigte Tenorsolist trat zum Schluss mit einem wiederholt gesungenen Vorhalt hervor, der das Schmerzvolle dieser komplex-kontemplativen Bußeübung nochmals hervorhob.

Es handelt sich bei den Stichi Pokajanije nicht allein um nachempfundene liturgische Musik. Ähnlich wie in den Werken von Arvo Pärt gibt es eine erkennbar starke Verbindung zur Vergangenheit, zu alten Traditionen und einer Musik, die in einer erkennbaren Tonalität verwurzelt ist. Schnittke lässt als Polystilist traditionelle russisch-orthodoxe und gregorianische Gesänge anklingen, die Komposition als Ganzes aber reflektiert zeitgemäß ebenso wie farbenreich das komplexe, tief empfundene Thema von Sünde und Reue.

Der Jugendchor Nieuw Vocaal Amsterdam, mit dem Cappella Amsterdam regelmäßig zusammen auftritt, begann das Konzert mit Rachmaninows Sechs Chorwerke für Frauenstimmen und Klavier. Gemeinsam mit nun fast 50 jugendlichen Sängern sang die Cappella danach eine Auswahl aus Rachmaninows monumentaler Vesper, Op.37, die dieser auf alte russisch-orthodoxe Melodien gestützt hatte.

Mit Bogoroditse aus derselben Vespser als Zugabe verabschiedete sich Cappella stilvoll und versöhnlich von ihrem Publikum.

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