Yannick Nézet-Séguin ging einen langen Weg seit seinem Debüt als Gastdirigent beim Orchestre Métropolitain in Montreal 1998. Er wurde zum Chefdirigenten beim Philharmonischen Orchester Rotterdam und beim Philadelphia Orchestra berufen, ebenso zum ersten Gastdirigenten des London Philharmonic Orchestras. Der von der Mezzosopranistin Joyce DiDonato „Mighty Mouse” genannte Mann ist nicht nur bei Musikern, sondern auch beim Publikum äußerst beliebt und weltweit gefragt. In der Saison 2020/21 tritt er seine neue Stelle als Musikdirektor an der Metropolitan Oper an. Und doch bleibt Nézet-Séguin seinem Orchester in Montreal treu, wo er seit 2000 Musikdirektor ist. Diesen Herbst führt er die Europatournee des Orchestre Métropolitain an, welche Nézet-Séguin als sein bisher größtes Abenteuer bezeichnet.
„Das ist eine so angesehene Tournee”, gibt er zu, „es ist eine Mischung aus etablierten Konzertsälen und neuen, wie der Philharmonie in Paris und der Elbphilharmonie in Hamburg.” Obwohl es ein wichtiger Meilenstein für das Orchester ist, birgt das Reisen seine eigenen Herausforderungen. „Auf Tournee teilt man seine eigenen Visionen mit der Welt und bekommt Eindrücke einer anderen Welt zurück… Wenn wir also in anderen Sälen spielen, sollten wir wir selbst sein, wir sollten zeigen wer wir sind wir sollten anders als das Stammorchester klingen. Warum sollten wir sonst um den halben Globus reisen, wenn wir wie das übliche Orchester des Publikums klingen? Ein Beispiel dafür ist das Concertgebouw in Amsterdam. Ich spiele dort oft mit dem Philharmonischen Orchester Rotterdam, aber wenn wir auf die Bühne gehen, wollen wir nicht wie das Royal Concertgebouw Orchestra klingen. Es ist wichtig, dass wir unseren eigenen Klang beibehalten.”
„Ich habe viel Erfahrung darin, mich an eine Akustik anzupassen, aber einige Musiker des Orchestre Métropolitain sind etwas besorgt, besonders wenn der Soundcheck nur 20-30 Minuten dauert. Ich erinnerte sie also daran, dass es eines unserer Markenzeichen in Montreal ist, in einem Saal nach dem anderen zu spielen. Wir spielen nicht nur im großen Symphoniesaal, sondern auch in Kirchen und anderen Auditorien und die meisten haben keine besonders gute Akustik, also haben die Musiker bereits ein Gefühl dafür entwickelt, sich an verschiedene Akustiken anzupassen, was bei dieser Tournee sehr hilfreich sein wird.”
Nézet-Séguin erinnert sich an sein Debüt beim Orchestre Métropolitain, als ob es gestern gewesen sei, ein ambitioniertes Programm mit Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 und Zweiter Symphonie. „Es war sofort zu erkennen, dass unsere Schicksale miteinander verbunden sind und deshalb habe ich keine Minute darüber nachgedacht, als mir zwei Jahre später die Stelle als Chefdirigent angeboten wurde.” Nézet-Séguin erweiterte ganz bewusst das Repertoire des Orchesters. So sehr, dass sie die meisten Werke, die sie heute aufführen, gemeinsam erlernt haben.
Bruckner ist sozusagen eine Orchesterspezialität geworden. Als wir miteinander sprachen, waren sie kurz davor die Fünfte Symphonie aufzuzeichnen, die letzte im Zyklus für Atma Classique. Ich bin der Meinung, dass Bruckner nicht unbedingt das natürliche Terrain für das Orchestre Métropolitain ist. „Absolut nicht! Das lag daran, dass ich Bruckner faszinierend finde. Als erstes dirigierte ich die Neunte und kurz danach begannen wir, alle aufzunehmen. Ich fühle mich persönlich zu Bruckner Symphonien hingezogen und sie stellten eine Möglichkeit dar, an dieser zentraleuropäischen Kultur zu arbeiten und an ihrer ganz speziellen Klangwelt. Möglicherweise liegt es an meinem katholischen Hintergrund in Quebec, der mich mit Bruckner verbindet, oder an den pastoralen Eigenschaften in den Werken, die so vertraut sind, wo das Orchester und ich aufwuchsen. Bruckner half uns, unseren eigenen Klang zu entwickeln.”
Wie würde Nézet-Séguin diesen Klang beschreiben? „Er ist sehr transparent. Von all meinen Orchestern, hat das Orchestre Métropolitain den zartesten Klang. Er hat etwas Reines und Delikates und sehr viel Ausdrucksstärke an sich. Sie tragen die Musik in ihren Herzen – er zeigt eine Reinheit, aber keine klinische. Sie sind daran gewöhnt an der Opéra de Montréal zu spielen und sie lieben es, mit Sängern zusammenzuarbeiten, weshalb ihr Klang eine gewisse Flexibilität aufweist, die Qualität des Zuhörens zieht sich durch alle Register. Die Tournee könnte zu keinem besseren Zeitpunkt stattfinden, um der Welt zu zeigen, was für ein besonderes Instrument es ist.”
Bei dieser Tournee will Nézet-Séguin Kanadas Kulturen würdigen – die Englische und die Französische – deshalb spielen sie Programme, die beide beinhalten, zusammen mit Musik der Québécois. Ich erwähne, dass Elgar außerhalb Großbritanniens nicht häufig aufgeführt wird, eventuell noch in Deutschland. „Ich habe die Vorbehalte gegenüber Elgar in Europa nie verstanden”, gibt Nézet-Séguin zu. „Für mich sind die Enigma Variations und das Cellokonzert Meisterwerke. Ich glaube, dass das Orchester seine Ursprünge in der englischen Kultur zeigen kann – ein Reichtum ohne übertriebener Schwere und das ist das Wichtige und Schwierige zugleich bei Elgar. Man will es wie Brahms spielen, aber ohne diesen zerebralen Zugang, der am Ende zu viel Gewicht darauf legt. Im Gegensatz dazu sind die Enigma Variations voller Humor und Seele, deshalb ist eine einzigartige Mischung und ich freue mich darauf, dass wir in deutschen Sälen Elgar spielen werden. Gemeinsam mit Debussy können wir dadurch die besonderen Qualitäten des Orchestre Métropolitain zeigen.”
Unter den Solisten der Tournee mit dem Orchestre Métropolitain ist die kanadische Mezzosopranistin Marie-Nicole Lemieux, die Berlioz’ Liederzyklus Les Nuits d’été singen wird. Nézet-Séguin beginnt schon bei der Erwähnung ihres Namens zu strahlen. „Sie ist unglaublich, so authentisch. Ihr Humor ist legendär, aber ich glaube, dass sie und ich die dieselbe wahre und leidenschaftliche Liebe für Musik teilen… aber das bedeutet nicht, das alles immer ernst sein muss. Oft lachen wir gemeinsam, und genauso oft weinen wir eigentlich auch. Bei unserer letzten Zusammenarbeit haben wir Mahlers Kindertotenlieder aufgeführt und es war nicht immer leicht, nicht von den Emotionen der Musik überwältigt zu werden. Marie-Nicole ist eine authentische Persönlichkeit, sehr inspirierend und mit der wir uns alle identifizieren können.”
Abseits des Konzertsaals trainiert Nézet-Séguin im Fitnessstudio – der Grund für DiDonatos „Mighty Mouse”-Bezeichnung. Als Kind war er nicht sportlich – „Ich war der typische Streber” – aber er hat erkannt, dass er gewisse Freiheiten auf dem Podium nur durch Fitness erreichen kann. „Ich wollte nicht durch mögliche Verletzungen eingeschränkt werden, also musste ich anfangen zu trainieren und es hat sich als ideale Möglichkeit bewiesen, für eine Weile an etwas anderes als Musik zu denken. Es ist wichtig, seinen Körper gesund und in guter Form zu halten. Es ist nicht leicht, Musiker zu sein. Körperlich ist es sehr anspruchsvoll.”
Die Entspannung nach dem Konzert ist genauso wichtig. „Es ist fast heilig, nach einem Konzert noch auszugehen für ein nettes Abendessen und Drinks. Es ist wichtig, dass man genießt und reflektiert und persönliche Beziehungen pflegt. Wir sind hier, um Leben auszudrücken, also müssen wir leben! Wir wollen nicht in einen Teufelskreis geraten, in dem außerhalb der Musik nichts mehr möglich ist. Ich sehe mich zuallererst als Musiker. Musik ist mein Leben, aber ich muss es auch leben.”
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Der Artikel wurde vom Orchestre Métropolitain gesponsert.
Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schwarz