Alice Sara Ott ist eine „kompromisslose” Pianistin. Ich erinnere mich an einen so leidenschaftlich gespielten Boléro, der ein Programm für zwei Klaviere 2015 mit Francesco Tristano einleitete, dass sie am Ende ihre Hände rang. Ein anderes Mal tweetete sie ein Foto von blutigen Klaviertasten nach einer Probe von Tschaikowskys Erstem Klavierkonzert. Und trotzdem war ihr Liszt mit dem London Symphony Orchestra voller Esprit und Witz und Einfühlsamkeit. Als ich sie für unseren Piano Month interviewte, fragte ich sie, wie sie auf sich selbst achtet.
„Am Ende kommt es auf die Technik an, nicht auf das Gewicht, die Stärke oder gar die Kraft”, erklärt sie, „Ich kann es wirklich nicht leiden, wenn Leute sagen, dass man hören kann, ob ein Mann oder eine Frau spielt. Am Ende müssen Frauen eine andere Technik benutzen, da sie andere physische Möglichkeiten haben.”
Alice glaubt nicht an die Schule des 12-stündigen Probentags. „Man kann stundenlang Klavier spielen, aber irgendwann wird man geistig müde. Die Musik wird durch so viel andere Dinge lebendig. Man sollte sich Zeit nehmen, zu lesen und Aufnahmen anzuhören, zu recherchieren und die Partitur zu lernen. Es ist eine Zeitverschwendung, wenn man einfach nur dasitzt und seine Finger bewegt, nur um zu üben.”
Aber selbst alles Üben der Welt kann einen nicht immer auf die unterschiedlichen Instrumente vorbereiten, mit denen man als Konzertpianist konfrontiert wird. „Ich bin eine Steinway Künstlerin, aber selbst wenn es die gleiche Marke oder Hersteller ist, können die Instrumente stark voneinander abweichen. Ein neues Klavier kennenzulernen ist wie eine neue Person zu treffen: entweder versteht man sich auf den ersten Blick oder man braucht Zeit, um sich zurechtzufinden. Oft hat man mit dem Klavier nur zwei Stunden Zeit bevor das Konzert startet. Als Pianist „treffen” wir jeden Tag neue Instrumente und es ist unser Job, das Klavier bestmöglich an die Akustik anzupassen. Man muss sich ständig anpassen und flexibel sein; die Einstellungen hängen natürlich davon ab, ob man einen Soloabend oder mit einem Orchester spielt. Das ist der lustige Teil der Musik”, lacht sie. „Manchmal weiß man nicht, wohin einen der Weg führt!”
„Ich bin kein Fan dieser unglaublich lauten brillanten Instrumente”, erklärt sie. „Es ist eine größere Herausforderung, so weich wie möglich zu spielen, aber dass man mich trotzdem noch bis ins hinterste Eck des Saales hört. Laut zu spielen ist keine Kunst. Weich zu spielen und unterschiedliche Nuancen zu finden – das ist Technik, das ist Virtuosität, nicht lautes und schnelles Spielen.”
Ott hat es auch schätzen gelernt, wie wichtig ein Klaviertechniker ist. „Wenn ich zum Beispiel in Japan bin, habe ich einen Techniker, dem ich vertraue und mit dem ich seit zehn Jahren zusammenarbeite. Ich glaube, wir haben die gleiche Sprache gefunden. Wenn er das Klavier stimmt, kann ich erleichtert aufatmen. Selbst wenn es ein schwieriges Instrument ist, vertraue ich darauf, dass er weiß, wie man das Beste herausholt.”
Auch wenn Ott wenig Zeit mit dem jeweiligen Klavier verbringt, die Zeit mit dem Dirigenten vor einem Konzertabend kann sogar noch kürzer sein. „Manchmal habe ich zehn Minuten mit dem Dirigenten, manchmal eine halbe Stunde, aber es kommt selten vor, dass man das gesamte Konzert vor der ersten Orchesterprobe durchgeht. Der Dirigent ist sehr wichtig, aber ich lerne auch vom Orchester. Konzerte sind nicht nur Solisten, die von einem Orchester begleitet werden, sondern eine größere Form der Kammermusik. Es ist also sehr wichtig, dass man direkt mit dem Orchester kommuniziert.”
Was das Repertoire angeht, frage ich mich, ob sich Alice manchmal wie in einem Hamsterrad gefangen fühlt, in dem sie immer wieder die gleichen Konzertstücke spielt. Gibt es vielleicht ein bestimmtes „vernachlässigtes Meisterwerk”, für das man sich einsetzen sollte? Ihre Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Amy Beachs Klavierkonzert! Es ist ein tolles Stück und es sollte öfter gespielt werden. Aber es ist natürlich klar, dass Zuhörer eher Tickets für Tschaikowsky als für Amy Beach kaufen. Ich denke es hängt davon ab, mit welchen Stücken es gepaart wird und wie man es in der Öffentlichkeit vermarktet.
„Manchmal ist es frustrierend, wenn es wieder das Tschaikowsky Konzert ist, aber solange ich Spaß auf der Bühne habe, habe ich kein Problem damit, es zu spielen. Ich kann verstehen, warum es die Leute so sehr lieben.” Sie erklärt, dass der Versuch, einen Dauerbrenner wie Tschaikowsky frischen wirken zu lassen, „in etwa so ist, wie neue Gewürze in ein Gericht einzubauen, das man zu oft gekocht hat. Was ich wirklich gern vermeiden möchte – vor allem aus Respekt vor dem Komponisten – ist, es routinemäßig zu spielen. Musik verdient das nicht, also studiere ich die Partitur immer wieder und entdecke neue Dinge, die ich zuvor übersehen habe. Ich will nicht in alte Muster fallen, oder Klischees.”
Otts Konzert mit Vladimir Ashkenazy letzten Herbst war erstaunlich… und ereignisreich. Sie fühlte sich während der Tournee unwohl, in Birmingham spielte sie bereits mit Fieber. Und in London vergaß jemand, die Bremsen der Klavier-Rollenböcke zu befestigen! „Ganz zu Beginn lehnte sich Maestro Ashkenazy zurück und das Klavier begann in Richtung der Celli zu rollen, also hatte ich nur eine Sekunde Zeit, um mit dem Hocker näher zu rücken und diese lauten Öffnungsakkorde zu spielen… und das Klavier bewegte sich weiter! Ich habe versucht zu überlegen, wann die nächste Tutti-Stelle kommt, damit ich kurz abtauchen und die Bremsen fixieren konnte! Diese Dinge machen die Konzerte menschlich! Musik ist keine Perfektion. Für mich ist es Imperfektion.”
Abseits des Konzert-Hamsterrads kann Ott mutigere Soloabend-Programme zusammenstellen. „Das momentane Programm war eine Herausforderung. Die Liszt Sonate ist bekannt, aber Griegs Solomusik, wie die g-Moll Ballade, ist weniger geläufig. Sie war eine wahre Entdeckung für mich. Als ich die Klavierkonzerte aufnahm, lernte ich seine lyrischen Werke kennen. Es ist keine extravagante Musik wie die von Liszt, aber es liegt eine unglaubliche Schönheit in ihrer Einfachheit und ich habe ich wirklich in sie verliebt.”
Ott hat eine klare Vorstellung, Konzert-Normen herauszufordern. „Ich habe mit unterschiedlichen Beleuchtungen auf der Bühne bei Liszts b-Moll Sonate experimentier. In den meisten Sälen würde ich den gesamten Saal in Dunkelheit hüllen und nur einen Scheinwerfer auf das Klavier richten.” Wir stellen fest, dass Sviatoslav Richter oft mit einer kleinen Lampe am Klavier gespielt hat, während die Halle komplett verdunkelt war. „Das Publikum war schockiert, weil sie im Dunkeln saßen. Man muss weder das Programmheft noch die Partitur lesen – man kann sie vorher lesen. Wenn die Musik beginnt sollte sonst nichts anderes sein. In anderen Genres werden visuelle Lichteffekte genutzt… wieso nicht in Konzerten? Ich ziehe mich auch um. Bei meiner Tournee war es Grieg in der ersten Hälfte und Liszt in der zweiten – also habe ich in ein langärmeliges schwarzes Kleid in der Pause gewechselt, bei dem man nur meine Finger sehen konnte. Ich wollte den Stimmungswechsel visualisieren.”
Bekannterweise spielt Alice barfuß. „Ich habe damit vor über zehn Jahren angefangen. Ich habe auf einem historischen Instrument in Deutschland gespielt, auf dem schon Liszt gespielt hatte. Zuvor hatte ich immer High Heels getragen und ich konnte meine Knie nicht unter das Klavier bringen, weil es so niedrig war – die Menschen waren damals wesentlich kleiner. Ich hatte kein zweites Paar Schuhe dabei, also musste ich sie ausziehen. Außerdem trug ich ein langes Kleid, also dachte ich, dass es niemand sehen würde. Und es war so bequem!
„Zuhause bin ich immer barfuß. Wenn ich übe sitze ich immer im Schneidersitz auf dem Klavierhocker – ich verwende beim Üben nicht gern die Pedale, man sollte alles mit den Fingern gestalten können und später die Pedale für die Farbe verwenden – aber ich übe im Schneidersitz, also trage ich nie Schuhe. Ich nehme an, dass es aus Japan kommt, wo man die Schuhe auszieht, wenn man jemandes Haus oder Wohnung betritt. Außerdem ist es auf der Bühne heiß, also fühlen sich die kalten Pedale auf den Füßen gut an! Meine Koffer sind jedenfalls wesentlich leichter, weil ich nicht mehr so viele Schuhe einpacken muss!”
Da wir bereits beim Thema Kleidung sind, legt Alice ihre Gedanken über Konzertkleidung dar und wie man ein jüngeres Publikum anzieht. „Musik sollte entspannt sein. Jeder hat eine unterschiedliche Haltung und wenn man beginnt, den Leuten zu sagen was sie anziehen sollen, dann ist es klar, dass die jüngere Generation nicht zum Konzert kommen will. Ich bin also gegen einen Dresscode und Regeln bei klassischen Konzerten. Ich denke nicht, dass das gesamte Orchester im Pinguin-Kostüm spielen muss. Wenn wir ein jüngeres Publikum wollen, sollten wir uns nicht wie aus dem letzten Jahrhundert anziehen. Die Kartenpreise sind genauso unerschwinglich, aber die Regeln, die Etikette, das vertreibt die jungen Menschen.”
Ott ist aktiv in sozialen Medien und sieht darin einen Weg, junge Leute in den Konzertsaal zu locken. „Heutzutage ist ein Künstler keine Diva mehr. Die Menschen wollen dem Künstler nahe sein und etwas über seine Herkunft wissen und sehen, dass er auch ein ganz normaler Mensch ist und kein zauberhaftes Genie. Sind sie erst mal im Konzertsaal, dann sind 70% der Arbeit getan.”
Aber soziale Medien sind auch eine Gefahr. „Es ist auch wichtig, dass man abschaltet. Selbst ein Buch zu lesen ist in diesen Tagen schwer. Es war so leicht, stundenlang in ein Buch zu versinken, aber heutzutage wird man von so vielen Dingen abgelenkt; selbst wenn man etwas im Internet liest, wird man so leicht von Werbungen abgelenkt, oder klickt sogar auf einen Link.
„Vor zwanzig Jahren waren die Menschen am Wochenende offline. Heute sind sie niemals offline und wenn man nicht innerhalb von zwei Stunden antwortet, werden die Leute besorgt. Es gibt ein Kinderbuch von Michael Ende, Momo, in dem die Welt von grauen Männern beherrscht wird, die Zeit von den Menschen stehlen und dieses Mädchen, Momo, und ihre Schildkröte Cassiopeia, kämpfen gegen diese grauen Männer und bringen der Menschheit die Zeit zurück. Wir sind alle Sklaven dieser grauen Männer. Wir glauben, dass wir Zeit sparen, wenn wir jetzt zehn E-Mails schreiben, aber was machen wir mit der gesparten Zeit? Wir schreiben weitere zehn E-Mails!”
Alice findet Wege von ihrem vollen Terminkalender abzuschalten, unter anderem mit Origami und dem Zeichnen von Cartoons. „Ich liebe Whisky und 200m von meiner Wohnung habe ich eine Whisky-Bar, in der ich mich regelmäßig mit meinen zwei besten Freunden treffe. Wir haben eine Regel, dass wenn wir uns zum Abendessen verabreden, Handys am Tisch verboten sind! Es geht um gute Gespräche.”
Aus dem Englischen übertragen von Elisabeth Schwarz