Was ist es, das das Publikum am traditionellen, klassischen Ballett so fasziniert? „Die Menschen fühlen sich wohl mit den Geschichten, die ihnen vertraut sind. Die Klassiker sind sanft und nicht konfrontativ. Bei ihnen geht es um die Schönheit und Reinheit der Linien, die Bewegung im Raum, in Verbindung mit der Musik. Wir könnten nicht zufriedener sein, oder?” So die ehemalige Ballerina des Royal Ballet, Darcey Bussell.

Darcey Bussell in der Titelrolle in Sylvia von Sir Frederick Ashton
© Bill Cooper

Das klassische Ballett ist nach wie vor ein Publikumsmagnet, wobei es bei einem Ballettabend mit drei oder mehr Werken noch etwas Überzeugungsarbeit zu leisten gilt. Zwar scheinen gemischte Aufführungen ein jüngeres Publikum anzuziehen, doch viele Ballettbesucher zögern, ihre Hauptnahrung Schwanensee und Giselle aufzugeben. In der Tat scheinen sie nicht genug davon zu bekommen.

Trotzdem sind einige Tanzenthusiasten der Meinung, dass das klassische Ballett veraltet und manchmal sehr problematisch ist. Ich habe mit drei bekannten Verfechtern des klassischen Balletts gesprochen, die zusammen mehr als 150 Jahre Erfahrung haben, um herauszufinden, welche guten Gründe es gibt, an diesem Erbe festzuhalten.

Für Bussell ist es die Einfachheit des Genres, die so wesentlich ist. „Es ist so schön, zu etwas zurückzukehren, das nicht übermäßig ,designt’ oder clever ist”, sagt sie. „Das ist ein Genuss für das Auge. Wenn man auf die römische Architektur zurückgreift, geht es um die Einfachheit der Linien. Die Symmetrie und die Qualität des Ganzen lassen einem den Atem stocken. Das ist es, was man beim klassischen Ballett sieht, keine Aufregung, keine Affektiertheit.”

Cynthia Harvey, ehemalige Ballerina des American Ballet Theatre, Tanzpartnerin von Mikhail Baryshnikov und kürzlich ausgeschiedene künstlerische Leiterin der Jacqueline Kennedy Onassis School, würde dem wahrscheinlich zustimmen. Sie führt den Wert von Klassikern auf deren Langlebigkeit zurück. „Wenn ein Werk mehr als fünfzig Jahre überdauert hat, dann hat es einen guten Grund. Denken Sie an Mozart, Beethoven oder die Beatles, sie sind uns lange erhalten geblieben. Der New Yorker schlug kürzlich vor, dass Akram Khans Giselle mehr Relevanz für die heutige Zeit hat und dass wir aufhören sollten, die alte klassische Version aufzuführen. Einige dieser älteren Ballette haben einen historischen Inhalt. Warum müssen wir sie ändern, nur weil sie für die heutige Zeit nicht mehr zutreffen?

Cynthia Harvey tanzt mit Mikhail Baryshnikov in Don Quixote
© MIRA, courtesy of American Ballet Theatre

„Für mich vermittelt das klassische Ballett ein anderes Konzept als das, was man in der Realität sieht”, fährt Harvey fort. ”Es ist Fantasie... es ist kein Realismus, wie man ihn in den Nachrichten sieht. Ich habe das Gefühl, dass wir heute zu viel in die Dinge hineininterpretieren und übermäßig sensibel werden. Ich verstehe, dass die heutige Generation nach Relevanz strebt. Aber man sollte nicht das Original loswerden, nur weil man etwas verändern will.”

Der zukünftige Direktor des English National Ballet, Aaron S. Watkin, der seit 17 Jahren Direktor des Semperoper Balletts in Dresden ist, schließt sich dieser Meinung an. „Um zu wissen, wohin wir gehen, müssen wir wissen, wo wir gewesen sind. Das klassische Ballett ist die grundlegende Basis des organisierten Tanzes, des Tanzsystems und all dessen, was studiert und gelernt wird. Es verlangt auch persönliche Geisteskraft, Körperkraft, Koordination, Musikalität, alles.”

Aaron S. Watkin
© Paul Stuart

Für Watkin sollte der klassische Tanz ein integraler Bestandteil eines breiteren Repertoires sein. „Ich glaube nicht, dass man nur mit klassischem, modernem oder neoklassischem Tanz aufgewachsen sein sollte. Heutzutage reicht es nicht mehr aus, eine Sache zu machen, man muss alles machen. Warum also sollte klassisches Ballett nicht relevant sein? Stellen Sie sich vor, Sie würden es aus der Gleichung herausnehmen. Was hätten wir dann? Ich halte es jedoch für wichtig, dass es auf unterschiedliche Weise präsentiert wird, dass es mehr um die Verbindungen geht und nicht nur um die Bilder. Es ist nicht statisch, sondern sollte innerlich in Bewegung sein.”

Für den Körper der Tänzer ist eine Ausbildung in klassischer Technik unerlässlich. Noch einmal Darcey Bussell: „Die Choreographen verlangen heute so viel vom Körper der jungen Tänzer, aber diese Körper wären nie in der Lage, das zu tun, was sie tun, wenn sie nicht die Stärke der klassischen Technik hätten. Für mich geht es darum, die eigene Mitte zu verstehen, die Ausrichtung, die Körperhaltung und woher sie kommt. Das klassische Repertoire, die Ausbildung, die man durch das Training erhält, bringt einen auf den stärksten Weg, und ich denke, dass selbst zeitgenössische Tänzer dem zustimmen werden. Sie mögen das zeitgenössische Ballett lieben, aber ohne die Erfahrung, klassisches Ballett in seiner reinsten Form zu lernen, wären sie nicht so stark wie ein zeitgenössischer Tänzer.”

Darcey Bussell im Alter von 17 Jahren
© courtesy of Darcey Bussell

Ich bin neugierig darauf, wie klassische Tänzerinnen und Tänzer es schaffen, ständig mit verschiedenen Disziplinen zu jonglieren, wenn sie das Programm wechseln. Bussell erklärt: „Klassisches Ballett ist viel anstrengender für den Körper. Man ist so exponiert. Man kann sich nicht verstecken, es ist sehr offensichtlich, wenn jemand etwas vortäuscht, aber das klassische Ballett braucht den zeitgenössischen Tanz. Sie ergänzen sich gut.

„Zeitgenössischer Tanz ist ein großartiges Mittel, um die Freiheit des Oberkörpers zu erlernen”, so Bussell weiter. „Er kann das klassische Ballett bereichern. Ich liebe es, wenn die Leute ihre eigene Sicht auf die Dinge haben... Wir müssen da viel klüger sein und das Publikum als einen größeren, breiteren Pool von Individuen betrachten. Ich glaube nicht, dass das eine Schande ist. Natürlich kehren wir zu den Klassikern zurück, denn sie sind unsere Geschichte, so hat alles angefangen, und wir respektieren die Qualität der Arbeit, der Choreographie und der Musik.”

Harvey fügt hinzu: „Manchmal versuchen wir in dieser Kultur, unsere Ansichten willkürlich durchzusetzen (wahrscheinlich denken die Leute, dass ich das tue!). Ich glaube nicht, dass diese alten Ballette vermitteln, dass Frauen schwach, sanftmütig oder mild sind – ich habe das als Tänzerin nicht gespürt, aber ich denke, das Argument ist, dass dies nicht die Frauen von heute repräsentiert. Ich denke an das, was Matthew Bourne mit seinem Schwanensee gemacht hat: Er hat es modernisiert und die Essenz der Geschichte eingefangen, ohne die alten Versionen loswerden zu müssen.”

Watkin spricht auch ein wenig über jene Choreographen, die zu den ganz frühen Versionen der Klassiker zurückkehren wollen. „Ich denke, es ist nützlich, Originalversionen von Balletten zu sehen, um zu erkennen, was die Absicht war. Manchmal habe ich Probleme damit, zu wissen, ob es sich wirklich um akkurate Darstellungen handelt, weil sie von sehr alten Notationen ausgehen. Aber das Ballett ist wie ein Tresor. Ich glaube auch, dass sich diese Ballette weiterentwickeln würden, wenn Petipa heute noch leben würde, mit den Tänzern und der Technologie, die wir heute haben. Ich denke, dass sie als historische Referenz für uns gültig sind, um zu sehen, wo wir gewesen sind, um zu wissen, wohin wir gehen werden.”

William Forsythe und Aaron S. Watkin, Semperoper Ballett
© Ian Whalen

Harvey preist die Vorzüge der klassischen Ausbildung. „Sogar meine zeitgenössischen und Hip-Hop-Tanz-Freunde gehen zum Ballettunterricht, alle von ihnen. Es ist die Basis, es ist ihr Fundament. Das kann man nicht abschaffen. Ich denke, wir müssen das Training im Lehrplan modernisieren. Wir müssen nur das, was wir haben, ergänzen. ... Dinge loszuwerden ist nicht die Lösung – Dinge zu verbessern schon. Beim normalen Balletttraining ist die Basis solide. Wenn Sie mehr Aufwärmübungen für die Füße machen wollen, ist das Ihre Entscheidung als Lehrer – Sie müssen sich nicht an eine Bibel halten. Mit einem Choreographen ist es dasselbe: Man muss wissen, wo die Basis ist, damit man die Freiheit hat, etwas auszuschmücken. Ich sage nicht, dass klassisches Ballett der einzige Weg ist (ich liebe übrigens zeitgenössischen Tanz!).”

Harvey unterstreicht den Eskapismus des klassischen Balletts. „Die Klassiker sollten erhalten bleiben, weil sie etwas anderes vermitteln als das, was man heute lebt. Es gibt einen Aspekt der Geschichte, mit dem sie sich identifizieren können ... aber es ist Fantasie, es ist Unterhaltung.”

Bussell, Harvey und Watkin sind sich einig, dass Musik für das klassische Ballett unerlässlich ist. Das soll nicht heißen, dass es keine Zukunft für die Kombination von neuer Musik und klassischem Ballett gibt, aber Komponisten wie Tschaikowsky, Massenet, Lizst, Chopin, Debussy und Rachmaninow sind immer noch der Kitt, der das Publikum dazu bringt, sich diese besondere Kombination der Künste – Choreographie, Musik, Design – anzusehen. Jedes Element trägt zu dem Spektakel bei, das, so sehr wir auch nach Innovationen suchen, immer noch das größte Tanzpublikum weltweit anzieht.


Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.