Matthias Naske ist in einer nachdenklichen Stimmung. Der Intendant des Wiener Konzerthauses brüht mit ruhiger Präzision eine Kanne Afternoon Tea auf, stellt einen Timer auf seinem Telefon ein, das er sorgfältig neben Tasse und Untertasse platziert. Er spricht sanft, überlegt seine Antworten und ist der Inbegriff einer ruhigen Hand am Ruder. Naske leitet das Konzerthaus seit fast einem Jahrzehnt. „Es sind zehn Jahre”, erzählt er mir, „aber die Zeit ist wie im Flug vergangen. Es war unglaublich viel Arbeit, aber auch sehr viel Freude. Es ist ein wunderbares Haus und ich empfinde es immer noch als Privileg, hier sein zu dürfen.”
Naske ist fast zufällig in diesen Job gestolpert. Er war Generaldirektor der Philharmonie Luxemburg, als er 2011 vom Konzerthaus beauftragt wurde, das Management des Hauses zu überprüfen. „Ich habe die strukturellen Rahmenbedingungen analysiert”, erklärt er, „und dann bestimmte Empfehlungen gegeben, was in der besonders schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der sich das Haus damals befand, getan werden konnte. Der Vorstand sagte einfach: ,Machen Sie es!’ ,Aber ich will nicht.’ ,Sie müssen.’”
Rund ein Jahr später verließ Naske Luxemburg, um im Juli 2013, wenige Monate vor dem hundertjährigen Bestehen des Hauses, seine Stelle im Konzerthaus anzutreten. „Ich hatte immer Sympathien für dieses Haus, weil ich früher mit Christoph Lieben-Seutter, dem heutigen Generaldirektor der Elbphilharmonie, zusammengearbeitet habe. Er war einer meiner Vorgänger an diesem Haus, als ich hier in Wien für die Jeunesse Musicale zuständig war.”
Doch die von Naske erwähnte wirtschaftliche Situation war erheblich, da die Gesellschaft nach umfangreichen Renovierungsarbeiten um die Jahrtausendwende immer noch ein Defizit von 6,4 Millionen Euro aufwies. „Das Haus ist bankrott, das sagt nur komischerweise niemand”, sagte er in einem Interview, als er 2013 die Leitung übernahm. „Warum habe ich das gesagt?” fragt Naske. „Wenn man eine Organisation übernimmt, muss man ehrlich sein – im besten Fall bleibt man es auch – aber es gab keinen Grund, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Es war nicht das, was die Politiker und mein Vorstand von mir hören wollten, also war es ein etwas schwieriges Unterfangen, aber andererseits glaube ich, dass es die richtige Entscheidung war. Von da an haben mein Team und ich unser Bestes gegeben und hart gearbeitet, um die Anzahl der Konzerte zu erhöhen und so das Geld zu verdienen, mit dem wir ein paar Jahre später die Kredite vollständig zurückzahlen konnten.”
Für ein Haus, das nur etwa 12% seiner Einnahmen aus öffentlichen Zuschüssen bezieht, war dies ein beachtlicher Umbruch, der einen zweijährigen Prozess der Umstrukturierung erforderte. Naskes ruhige Herangehensweise lässt das alles wie die natürlichste Sache der Welt klingen. Er erklärt, was es braucht, um ein erfolgreicher Intendant zu sein.
„Die Basis ist die Leidenschaft für Musik. Ganz wichtig sind aber auch grundlegende wirtschaftliche Kenntnisse. Manchmal konzentrieren sich die Leute nur auf eine Dimension, aber wenn man das, was wir tun, aus einer abstrakten Perspektive betrachtet, stellt man schnell fest, dass es im Grunde um Kommunikation geht. Man muss sich auf die Qualität dieser Kommunikation zwischen zwei Partnern konzentrieren – dem Publikum und den anderen auf der Bühne. Wir müssen die Wünsche der Leute, die wir ins Haus holen wollen, widerspiegeln, aber wir müssen sie auch sehr sorgfältig kuratieren und neue Wünsche oder neue Erwartungen entwickeln. Das ist Geschicklichkeit, Kommunikation, das ist Mediation. Es klingt kompliziert, ist es aber eigentlich nicht.”
Bis zur Saison 2018/19 konnte Naske die Zahl der Konzerte im Konzerthaus von 469 in seiner ersten Saison auf 652 steigern, doch dann wurde die Saison 2019/20 – wie überall auf der Welt – durch die Pandemie ausgebremst.
„Die Zerstörungskraft der Pandemie war enorm”, gesteht er und relativiert. „Das Haus hat seine Tätigkeit 1913 aufgenommen und wir haben bis 1933 durchgängig gespielt, als in Wien ein Bürgerkrieg tobte und das Haus für 11 Tage geschlossen werden musste. Dann gab es eine zweite Schließung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, die 24 Tage dauerte. Wir hatten die erste Covid-Schließung von 88 Tagen im Jahr 2020 und danach kamen weitere. In diesen zwei Jahren waren wir 305 Tage lang geschlossen. Das ist unvorstellbar. Wir leben davon, dass wir Dienstleistungen für die Menschen erbringen. Wenn aber niemand zu uns kommen darf, ist es schlichtweg dramatisch.”
Die Besucherzahlen erholen sich allmählich, aber wie bei vielen Sälen und Opernhäusern in ganz Europa lassen sich die Besucher mit dem Kartenkauf Zeit. In der laufenden Saison ist die Zahl der Abonnements im Konzerthaus gegenüber den 33.000 verkauften Karten der Saison 2018/19 um rund 5.000 gesunken.
Die gängige Wahrnehmung von Wien, insbesondere für jemanden, der in einer Stadt wie London lebt, ist, dass die Stadt kulturell auf Traditionen aufgebaut ist. Es ist die Stadt von Mozart, Beethoven, Schubert und Mahler. Sie ist die Heimat der Staatsoper und des Musikvereins. Ich frage mich, welche Bedeutung Naske der Tradition gegenüber Innovation beimisst. „Das ist eine ausgezeichnete Frage”, nickt er. „Wie Sie wissen hat Tradition nur dann einen Wert, wenn sie mit Innovation gefüllt wird. Es gibt zum Beispiel Formate, bei denen man den üblichen Ablauf eines Konzerts aufsprengen kann.”
Wir sprechen über die Fridays@7-Reihe der Wiener Symphoniker, „eine Idee, die ich in Cleveland gesehen habe – es ist eine offiziell gestohlene Idee”, bei der ein kürzeres Programm als üblich im Großen Saal präsentiert wird, gefolgt von einem informelleren Treffen im Foyer, bei dem sich das Publikum mit den Musikern austauschen und Kammermusik oder Jazz genießen kann.
Ein weiteres Beispiel ist das Festival Gemischter Satz, ein Konzertformat, das Naske zusammen mit Andreas Schett von der Musicbanda Franui entwickelt hat und das mit einer der Methoden der Weinlese in Wien vergleichbar ist. Gemischter Satz ist die Bezeichnung für den Anbau von Wein, der aus verschiedenen Rebsorten besteht, die am selben Weinberg angebaut und nach der gemeinsamen Lese auch gemeinsam gekeltert und vergoren werden.
„Ein Gemischter Satz ist sozusagen eine natürliche Cuvée, die der Weinberg selbst erzeugt. Wenn man die Idee nun auf ein Konzerthaus überträgt, dann präsentieren wir bei diesem Festival Literatur und alle Arten von Musik und bildenden Künsten in einem außergewöhnlichen Format. Es findet in allen vier Sälen parallel statt, und die Besucher gehen von Saal zu Saal, während die Künstler ihre 40-minütigen Sets wiederholen. Auf dem Weg dorthin gibt es Verkostungen des frischen Gemischten Satzes der Wiener Winzer, was sehr verführerisch ist.
„Wir präsentieren einen sehr dynamischen, gut entwickelten Programm-Mix innerhalb der verschiedenen künstlerischen Genres. Zum Beispiel ein Schubert-Lied, gesungen von Florian Bosch, das dann in ein von einem Volksmusikensemble gespieltes Stück übergeht, das das Volkslied, auf das sich Schubert bezog, aufführt, oder vielleicht ein Gedicht, das von einem Schauspieler des Burgtheaters gelesen wird, und dann vielleicht eine Reflexion über Schubert von Gubaidulina – eine Sequenz, die man normalerweise nie hören würde, aber sie ist mit so viel Liebe kuratiert, dass die Zuschauer sie wirklich genießen.”
Aber Naske schätzt auch die Tradition. „Ich liebe die traditionellen Matinee-Konzerte. Wir müssen uns die Lebendigkeit dessen, was wir lieben, erhalten. Dadurch haben wir viel mehr Freiheit, als wir glauben.”
Die Konkurrenz durch andere Kulturanbieter in Wien ist groß – die Staatsoper und der Musikverein sind unglaubliche Touristenmagneten, aber das Publikum des Konzerthauses kommt vor allem aus Wien selbst und dem Umland. „Der Musikverein und die Staatsoper sind die größeren Marken”, räumt Naske ein, „aber damit können wir eigentlich ganz gut leben, weil wir andere Nischen haben; wir haben junge Talente und verschiedene Musikrichtungen, das gibt uns viel Freiheit.”
Sieht er den Musikverein als Konkurrenz oder als Ergänzung? „Es ist beides. Sie sind die Konkurrenz, aber ich möchte meine Energie nicht in Kämpfen verlieren, das macht keinen Sinn. Wir dienen beide den Menschen in dieser Stadt und hoffentlich auch einem größeren Umfeld außerhalb Wiens.”
Er betrachtet den Unterschied zwischen den beiden Häusern, die beide sowohl die Wiener Philharmoniker als auch die Symphoniker beherbergen. „Akustisch haben wir das Privileg, etwa 50 Jahre später gebaut worden zu sein. Bei größeren Ensembles ist es daher in diesem Haus leichter, klar gehört zu werden. Die Musik hat einfach mehr Platz, mehr Luft. Es gibt Repertoire, das ich lieber im Musikverein höre, und es gibt Repertoire, das ich lieber in diesem Saal höre. Aber wir haben zweifellos den besseren Kammermusiksaal, den Mozart-Saal. Es ist ein Privileg, zwei akustisch gleichwertige Häuser in derselben Stadt zu haben. Es ist eine Schande, dass die Pläne des LSO für einen neuen Saal in London gescheitert sind. Eine Stadt wie Luxemburg hat unglaublich von den Investitionen in die Infrastruktur profitiert, genauso Hamburg und Paris. Infrastruktur ist die Basis für Entwicklung, und die Musik braucht solche Orte”.
Bei der Programmgestaltung setzt Naske auf spannende junge Künstler wie Klaus Mäkelä, der in der vergangenen Saison mehrfach im Konzerthaus zu Gast war. Auch Raphaël Pichon nennt er als einen faszinierenden Künstler. „Er löst für mich musikalisch so viel aus, er ist einer der interessantesten Dirigenten.”
Ein weiterer Dirigent, für den er sich einsetzt, ist Teodor Currentzis, ein Künstler, der seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine wegen der russischen Finanzierung seines Orchesters musicAeterna in die Kritik geraten ist. „Ich hatte eine langjährige Tradition, Teodor Currentzis zu engagieren. Wie viele andere auch, habe ich jetzt Sorgen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die politische Dimension des Engagements von Currentzis für mich nicht ausgewogen, und zwar wegen der Finanzierung seines Orchesters und seiner Entscheidung, sich nicht zu der Situation zu äußern. Selbstverständlich akzeptieren wir seine Entscheidung, ich werde ihn deswegen nicht verurteilen, aber ich werde ihn zum jetzigen Zeitpunkt nicht verpflichten, also werden wir einfach eine Pause einlegen.”
In der jetzt angekündigten Saison 2023/24 ist Naske stolz auf das vielfältige Programm des Konzerthauses. „Aus traditioneller Sicht haben wir einen Zyklus mit Franz Welser-Möst, der mit dem Cleveland Orchestra, den Wiener Philharmonikern und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks kommt. Außerdem haben wir ein Verdi-Requiem mit dem neuen Chefdirigenten der Volksoper, Omer Meir Wellber.” Die ägyptische Sopranistin Fatma Said, ein aufregendes Talent, wird in dieser Saison als Porträtkünstlerin auftreten.
Das Publikum wird auch Bachs Goldberg-Variationen hören... zweimal. „Nach Fazıl Says letztem Konzert mit Patricia Kopatchinskaja hab ich Fazıl gefragt, was er als nächstes machen möchte, und er sagte die Goldbergs, aber ich hatte bereits die Goldbergs mit Vikingur Ólafsson... also habe ich sie beide ins Programm aufgenommen. Ich freue mich besonders auf Samara Joy, die eine der interessantesten jungen Stimmen in der Welt des Jazz ist.”
Aber was, frage ich, kommt nach zehn Jahren an der Spitze für Naske als nächstes? „Ich habe gerade meinen Vertrag hier bis 2028 verlängert. Es wurde zwar verkündet, aber eher diskret. Ja, ich nehme mich schon ernst, aber nicht so sehr! Ich liebe meinen Job. Ich arbeite mit Leidenschaft für dieses Haus und solange mir der Vorstand das Vertrauen schenkt, bin ich gerne bereit, hier zu arbeiten, solange ich fit genug bin. Ich möchte es weiter stabilisieren und ihm mehr Freiheit und Sicherheit für schwierige Zeiten geben. Es ist ein Privileg, für die Musik in Wien zu arbeiten.” Unter der ruhigen Führung von Naske bleibt das Haus in ausgezeichneten Händen.
Ins Deutsche übertragen von Elisabeth Schwarz.