Bizet hat Spanien nie gesehen. Er hat nie einen spanischen Zigeuner getroffen. Seine Idee von Südspanien und dem Zigeunerleben in Carmen ist gänzlich exotisiert und romantisiert, mehr Produkt seiner Vorstellung als irgendeiner Realität. Die Musik ist ein Wirbelwind von orchestralen Farben und rhythmischer Vitalität, und obwohl sie wahrscheinlich nur wenig mit richtiger spanischer oder Zigeunermusik zu tun hat, so zeigt sie doch das Phantasiebild dieser Welt in den Augen Nordeuropas.
Die orientalistische Heraufbeschwörung von Carmens Welt ist vielleicht das, was in Alex Köhlers Dresdner Inszenierung unstimmig ist. Er versetzt die Oper in moderne Zeiten und stattet sie mit der Art schmutzigem, industriellen Bühnenbild aus, das Opernproduktionen des 21. Jahrhunderts so sehr lieben. Damit versucht Köhler, die zeitliche Kluft zwischen Werk und Inszenierung verschwinden zu lassen, und es dadurch relevant zu machen. Es gibt eine beeindruckende Einheit in dieser Inszenierung, mit Bühnenbild, Kostümen und Bewegung, die ein Ideal ausdrücken: dies ist kein schöner, freundlicher Ort, sondern eine Fabrikstadt in einer post-industriellen Welt, die von den Verlierern der Gesellschaft bewohnt und von Gewalt und Verbrechen geplagt ist. Die Tatsache, dass der Kitsch, der so vielen modernen Carmen-Produktionen anhaftet, vermieden wird, ist sicherlich ein Allleinstellungsmerkmal dieser Produktion und wirft ein ganz anderes Licht auf das Werk. Carmen ist in vielen Punkten dennoch eine Kitsch-Oper. Das liegt an Bizets ausschweifendem erotischem und exotischem Meisterwerk, und hier ergibt sich ein Widerspruch innerhalb der Produktion: die Musik sagt das eine, doch die Inszenierung sagt etwas ganz anderes.
Einer der größten Stars in Carmen ist der Chor, und der Sächsische Staatsopernchor glänzte hier wirklich mit einem vollen Klang und knackiger, charaktervoller Artikulation. Dazu gab es eine starke Solistengruppe. Die Rolle der Micaëla ist schwierig, denn sie hat kaum Persönlichkeit und repräsentiert eher das unschuldige Leben, das Don José einst führte, als ein Liebesobjekt. Die amerikanische Sopranistin Emily Dorn besitzt eine liebliche Stimme, die sie subtil ganz im Einklang mit der Einfachheit ihres Rollencharakters einsetzt. Es gibt Sänger mit wunderschönen Stimmen, und es gibt Sänger, die wunderschönes mit ihren Stimmen tun, und ich glaube, dass Nikolai Schukoff zu letzteren gehört. Sein Don José ist kein lieblich-klingender junger Mann, aber das Legato scheint unendlich und seine Phrasierung war nicht nur souverän, sondern passte genau zu den Gefühlen seiner Figur. Ilhun Jung mühte sich sichtlich, als Carmens Liebesobjekt Escamillo zu überzeugen, und sang recht leise, aber angenehm.
Anke Vondungs Carmen allerdings stand völlig zurecht im Rampenlicht. Sie fühlt sich auf der Bühne wohl, versprüht Sexappeal bei jeder Bewegung und besitzt eine verführerische Ausstrahlung. Stimmlich stand sie noch ein wenig über ihren Kollegen, und ließ ihre opulente Stimme immer ein wenig über das Orchester hinausragen. Am erstaunlichsten aber war die Vielhalt an Klangfarben. So viele Sänger fürchten, Klangfülle zu verlieren, wenn sie ihre Vokale richtig klingen lassen, oder sehen einen hauchigen Klang als völlig ausgeschlossen. Vondung aber demonstriert, dass auch diese Dinge ihren Platz haben, und kann den Gemütszustand ihrer Figur bisweilen perfekt ausdrücken, was für den musikalischen und den dramatischen Effekt unermesslich ist.
Ihre Farben auf der Bühne werden im Orchestergraben wiedergespiegelt, in dem die Sächsische Staatskapelle Dresden Bizets Musik mit dem vollen Klangspektrum füllt. Dirigent Josep Caballé-Domenech hält die Musik in gutem Tempo und widersteht der Versuchung, Carmens berühmte Tänze in die Länge zu ziehen, lässt ihr aber dennoch genug Zeit, rhythmisch zu kokettieren.
Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck