Selbst erfahrene Musiker des Gürzenich-Orchesters Köln wunderten sich, warum ihr historisch informierter Chef explizit Richard Wagner mit Dauervibrato spielen ließ, fordert François-Xavier Roth ansonsten doch stets spärlichstes oder je nach Zeit ausgewähltes – darin später dann auch stärkeres oder solistisches – Vibrieren. Und das ist keine Frage des Musikstilstreits zwischen „alt- und neudeutscher Schule“, da seine Berlioz-Interpretationen ohne dies auskommen. Allein an dieser Beobachtung wird deutlich, dass wir uns in einem Feld von Widersprüchen befinden. Fast natürlicherweise ausgerechnet bei Wagner, der immer noch ein an gewissen Kriterien bemessen halbherzigeres Objekt sogenannter historisch-informierter Aufführungspraxis ist. Warum ist das so? Neben anzutreffender Widersprüchlichkeit stellt die Wagner-Rezeption insgesamt schon wegen des zelebrierten Mythos Bayreuth einen Spezialfall dar. Exemplarisch seien zwei Zitate in den Raum gestellt: Christian Thielemann: „Ich habe ja die Partituren, und da steht alles drin.“ sowie Richard Strauss' vormals saftiges Statement: „Glaubt mir, es ist wirklich falsch, was ihr in Bayreuth macht!“
Unter dem Titel Wagner-Lesarten schicken sich nun eben in Köln eines der bedeutendsten historisch-informierten Ensembles, nämlich Concerto Köln, und der international renommierte Kent Nagano an, Wagners Ring aufführungspraktisch zu erkunden und aufzuführen. Das Orchester habe dabei den Ehrgeiz, eine Lesart in der heutigen Interpretation von Wagners Ring vorzuschlagen, die in dieser Dimension noch nicht versucht worden sei. Ihnen zur Seite stehen zahlreiche Wissenschaftler, Instrumentenbauer und Kollegen, die belegbare Klarheit in das hier exemplarisch vorgestellte Wirrwarr von Musikpraxis und Intention des Komponisten zu bringen versuchen. Der wissenschaftliche Leiter Dr. Kai Müller ordnet das Ergebnis vernünftigerweise relativierend ein: „Den einen unwiderruflichen Originalklang von 1876 kann es nicht geben.“
Doch kommen wir zu den Kriterien, die ohne allzu großen Aufwand jeder Interessierte in einer Aufführung überprüfen kann. Jedes für sich ist so ausfüllend, dass es den Rahmen sprengen würde, deshalb beschränke ich mich auf grundlegende Erwägungen.
Vibrato und Artikulation (Sprache)
Bleiben wir zunächst beim Vibrato, das für mich zweifellos eines der Hauptthemen einer Interpretation ist: Und damit meine ich das bewusste Weglassen dieses Stilmittels, dessen nachweislich falsche Dauerverwendung in allen Stücken jeder Epoche genauso aufzufinden ist wie die Tatsache, dass es für zahlreiche Komponistenveteranen aus dem 18. und 19. Jahrhundert einfach gräuslich war. Unbestritten ist damit, dass sich das Vibrato und seine unterschiedlichen Formen damals bereits Verbreitung erfreuten, nicht immer nur zur ausgewählten Zierde. Nicht zuletzt die Überlieferungen von Fritz Steinbachs „authentischen“ Brahmsinterpretationen in und nach Wagners Zeiten mit sparsamerem Vibrato oder Wagners und anderer ausdrücklicher senza vibrato-Notierungen zeugen von der Notwendigkeit der Erinnerung an den besonderen Einsatz dieses Vibrierens beziehungsweise den individuell erklärten Wunsch des Komponisten. Wie die Roth-Erfahrung zeigt, dürfte es spannend werden, wie umfassend Concerto Köln und Nagano (zwischen Roger Norringtons pure tone und dem klassisch eingebürgerten Extrem) diese Frage schließlich beantworten.
Dies geht zudem einher mit der Beleuchtung eines verständlicheren Gesangs, dem neben den stets aufgeworfenen Fragen der Dynamik (mit größerem und instrumentaldeutlichem, aber „gedeckeltem“ Orchester) im besonderen Umfang die Untersuchung nach Text, Diktion, Betonung und Sprache dient. Abseits der allgemeinen Erkenntnis, dass Wagner das bekannte Schreien, Ankämpfen oder „Bellen“ der Gesangssolisten hasste und stets um Textlich-, Verständlich- und Gesanglichkeit rang, ist Concerto Köln mit dem sprachwissenschaftlichen Institut der Universität Halle bemüht, der Germanistik Wagners und dessen Aussprache auf den Grund zu gehen. Dabei erweist sich der Deutsche Gesangsunterricht von Julius Hey, Sprecherzieher und Wagners Gesangscoach in Bayreuth, als gute Quelle. Das vor dem Hintergrund Wagners Dichtung und seiner Forderung, „richtiges Deutsch zu sprechen“ und mit guter Vokalität zu singen.
Tempo
Vor allem das Tempo (in Verbindung mit dem Takt) spielt gleichsam eine entscheidende Rolle. Ein Megathema der historischen Aufführungspraxis und eigentlich ein alter Hut hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Beethoven oder dem Barock. Doch führt anscheinend die (Weiter-)Entwicklung des Metronoms und der Tempobezeichnungen nicht zu mehr Klarheit. So bemängelt Walter Blume mit zu kritisierender Einseitigkeit immer schneller werdende Tempi, bei der das richtige Maß zwischen Rhythmus und Melodie, das „elektroskopisch feine Gefühl für Tempo-Modifikationen verloren ginge. Richtigerweise entwickelte sich gegen Blumes Betrachtung vielmehr eine allgemeine Interpretationsbasis von „immer stärker gleichförmigem Legato“ beziehungsweise laut Richard Wagner beklagenswert „endlosem Melos“ und stets schleppenden Tempi, schlimmer noch, einem Artikulations- und Phrasierungs-Einerlei aus dauervibratogetränktem Klangbrei und Tempo-Dynamik-Langeweile. Für heutige Aufführungen muss demnach berücksichtigt werden, dass diese angeblich schnelleren Tempi, bei der Blume auch Wagner-Interpretationen ins Feld führt, welche nach dessen Tod auf Geheiß Cosima Wagners weiter heroisch abgrenzend verbreitert wurden, mit dem Aufkommen des größeren Medienaufgebots wesentlich langsamer gerieten und hinter die Uraufführungszeiten und Anweisungen fielen.
Dass dieser Befund ausgerechnet für besagt mahnenden Richard Wagner zutrifft, ist tragisch. Versuche von Norrington (erinnert sei z.B. an sein Vorspiel zu den Meistersingern), Hengelbrock oder Minkowski hatten bisher leider aus unterschiedlichen Gründen keinen so nachhaltigen Durschlag wie erhofft. Lorenzo Alpert, künstlerischer Leiter Concerto Kölns, und Dr. Kai Müller drücken es diplomatischer aus: „Bis vor Kurzem gab es eine Art Gentlemans Agreement zwischen moderner und historischer Aufführungspraxis in Bezug auf das Repertoire. Die Traditionalisten beider Seiten hatten sich gewisse Komponisten (vor 1800/nach 1800 mit einem Überlappungszeitraum von etwa 50 Jahren) angeeignet und beanspruchten für sich die Interpretationshoheit. Die ersten historisch informierten Wagner-Interpretationen sind möglicherweise deshalb nicht für alle ganz so nachhaltig geworden, weil die Pioniere auf diesem Gebiet es gewagt haben, diese imaginäre musikalische Grenze zu überschreiten.“
Stimmung, Aufstellung, Instrumente
Die Stimmtonhöhen warfen schon immer eine aufführungsrelevante Diskussion auf, die bei der historisch und regional zerklüfteten Stimmung der Instrumente ebenfalls einer Betrachtung unterzogen wird, zumal sie neben Klangaspekten Auswirkungen speziell für die Bläser und die Sänger mit sich bringt. Der heute gewöhnliche Kammerton a' = 440Hz wurde erst 1939 festgelegt, ganz zum Gefallen der Streicher und Aufnahmetechniker in Zeiten der stärker werdenden Rundfunkverbreitung. Heute sind in Orchestern meistens sogar 442/443Hz gebräuchlich, die aber eben bereits zwischen 1830 und 1870 in Kontinentaleuropa, bis in die 1890er Jahre in Großbritannien vorherrschten. 1858 jedoch einigte sich eine ministerielle Kommission in Paris auf den Stimmton 435Hz, der unter anderem in den operalen und orchestralen Hochburgen Wien und München praktiziert wurde. Ihn schätzte nach Erkenntnissen der Projektverantwortlichen Concerto Kölns auch Wagner, der somit in der Reihe der Wortführer Verdi, Strauss und später Harnoncourt eines nicht anzuhebenden Kammertons steht. Während sich Köln also für die dekretierte Französische Stimmung entscheidet, schließen andere wie Hartmut Haenchen aus der Überlieferung der Dresdner Stimmung von 446Hz und dem verbreiteten, auch trotz Übereinkunft gespielten, höheren Stimmton von über 440Hz das Festhalten an der heutigen, modernen Praxis.
Als regional unterschiedlich – was zudem auf bevorzugte Bogenstrichschulen zutraf – galten und gelten immer noch die Aufstellungen der Orchester, die mal der Historie, der eingeübten Praxis, der Vorliebe des Dirigenten, dem Saal oder mal dem Stück unterworfen sind und an denen Kapellmeister und Komponisten seit jeher herumexperimentiert und -kritisert haben. Johann Adolf Hasse manifestierte in Dresden noch die als barocke Aufstellung zumeist in gewissen Abweichungen etablierte geteilte (Opern-)Aufstellung von Streichern und Bläsern, mittig getrennt durch Cembalo und Celli. Somit oftmals Anstoß von bemängelter Balance und zum unerwünschten Leidwesen zahlreicher Persönlichkeiten, wobei teilweise auch die örtlichen Gegebenheiten die Positionierung bestimmten, setzte sich schließlich später in Dresden die dort bis heute übliche Dresdner Sitzordnung als Deutsche Aufstellung durch. Sie hatte Johann Friedrich Reichardt Mitte des 18. Jahrhunderts erdacht und in Berlin mit wechselnden mittigen Bratschen dauerhaft eingeführt. Dennoch lässt erwähnter Haenchen, der die Dresdner Stimmung zu Interpretationszwecken anspricht, entgegen Wagners Dresden in barocker bzw. heute amerikanischer Disposition mit rechtssitzenden Celli spielen. Nachweislich am gefestigsten antiphon und ebenfalls bis heute (vertraglich abgesichert) trat das Gewandhaus Leipzig auf, was allmählich an weiteren bedeutenden Häusern und Bühnen tatsächlich klanglich Raum griff. Diese geeignete Aufstellung dürfte auch von dem sie praktizierenden Concerto Köln und bisher für Wagner vorgezogenem Nagano benutzt werden.
Während Haenchen nun konsequenterweise (aber ziemlich phrophezeiend) aus dem Umstand Wagners Aufgeschlossenheit und „Phantasie“ neuen Erfindungen gegenüber die generelle Verwendung moderner Instrumente, deren Besaitung und Stimmung folgert, erfordert die historische Aufführungs- und Klangpraxis einen differenzierteren Blick, der auf die möglichen Gegebenheiten rekurriert. So kann Wagner im Streicherpart kaum ohne Darmsaiten gedacht werden, zu dem für den 1876er Ring sechs Ritterbratschen hinzukommen. Außerdem dürfte der mindestens seit 1880 neben Leipzig wohl auch in Meinigen vorzufindende Otho-Bass 1879 in Bayreuth zur Anwendung gekommen sein. Beide Instrumente verdeutlichen Wagners Wunsch nach und die Benutzung tieferer Instrumente für einen dunkleren, spezielleren, deutlichen Klang; Veränderungen, denen im Besonderen Bläser unterworfen waren.
Im Gegensatz zu Brahms führte Wagner so beispielsweise recht früh die Ventilhörner ein, an denen „vorzügliche Künstler durch besonders aufmerksame Behandlung die bezeichneten Nachteile (Anm.: nämlich den Verlust des unverwechselbaren Naturhornklangs!) fast bis zur Unmerklichkeit aufzuheben vermochten...“. Berüchtigt sind die Wagnertuben für Das Rheingold, bis 1877 sogenannte Cornons, dann Barytons, die die gewollte Kombination aus Horn und Tuba abbilden. Kurz erwähnt seien auch noch die Verstärkungen der Posaune sowie die ebenfalls aus der Militärmusik stammende längere Ventiltrompete in Basslage, zu der Friedrich Körner festhält: „Das Es– oder F–Instrument hat besonders in der Lage, in der die meisten solistischen Stellen der Götterdämmerung geschrieben sind, einen viel runderen, volleren, substanzreicheren Klang als die moderne B–Trompete“. Es ist also vom Standpunkt der Aufführungspraxis aus gesehen nicht richtig, dass wir die Werke der Klassiker, aber auch die Trompetenparte Richard Wagners mit den modernen, kurzen Instrumenten ausführen.“
Neuerungen erfuhr des Weiteren die Flöte mit der konischen Ringklappenflöte, die Oboe durch die Altoboe sowie das Wagnerfagott. Von Bedeutung sind im Rheingold zudem sechs Harfen, dessen Arrangement Wagner in Bayreuth dem Doppelpedalharfenisten Johann Dubez anvertraute. Concerto Köln orientiert sich bei den sensiblen und praktisch diffizilen Fragen der „möglichst kompromisslosen Rekonstruktion“ mitunter an der Besetzung der Münchner Hofkapelle von 1882, die außerdem mit derjenigen von 1876 abgeglichen wird. Mindestens ein Jahr vor der Rheingold-Vorstellung möchte man soweit sein, die Instrumente zur Verfügung zu haben, die dann noch genügend intensiver Einübungszeit bedürfen.
Fazit
Das grundlegend historisch-informierte Wagner-Projekt Concerto Kölns könnte der kompositiorischen Klangwelt- und Wirklichkeit nachkommen, die mit (aus damaliger Zeit auch realisierbarer und nicht aus heutiger Sicht in Wagners Zukunftswunsch erdachter!) Musizierpraxis möglichst nah übereinstimmt. Eines ist jedenfalls gewiss, das Wagner-Mekka liegt in den nächsten fünf Jahre in Köln.
In den Artikel floss ein Interview ein, das der Autor, Jens Klier, mit Lorenzo Alpert von Concerto Köln und Dr. Kai Müller geführt hat.
Quellen
Walter Blume, Brahms in der Meininger Tradition – seine Sinfonien und Haydn-Variationen in der Bezeichnung von Fritz Steinbach, Stuttgart 1933, herausgegeben von Michael Schwalb, in: Brahms in der Meininger Tradition – Seine Sinfonien in der Bezeichnung von Fritz Steinbach, 2. Auflage 2014, darin auch Wolfgang Sandberger
Robert Braunmüller, in: Richard Wagner in München – Bericht über das interdisziplinäre Symposium zum 200. Geburtstag des Komponisten, München, 26.-27. April 2013, München 2015, Sebastian Bolz/Hartmut Schick (Hg.)
Hartmut Haenchen, Richard Wagner und das Tempo in seiner Musik
Bruce Haynes, A History of Performing Pitch: The Story of 'A', 2002
Birgit Heise/Thierry Gelloz, Musikinstrumente für Richard Wagner, in: Ergänzende Anmerkungen zum Katalog: „Goldene Klänge im mystischen Grund“, Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig
Friedrich Körner, Die Verwendung der Trompete im Richard-Wagner-Orchester, in: Bläserklang und Blasinstrumente im Schaffen Richard Wagners, Kongreßbericht Seggau/Österreich 1983, Wolfgang Suppan (Hg.), 1985
Ottmar Schreiber, Orchester und Orchesterpraxis in Deutschland zwischen 1780 und 1850, 1938/1978
Egon Voss, Richard Wagner, 2012