Was wäre die Musikgeschichte ohne Händel, Haydn oder Beethoven? Dass Arbeit, Verbreitung und Ruhm auch von Mäzenen, Dienstherren, Veranstaltern, Freunden und namhaften Bekannten abhängen, davon kann selbst dieses mächtige Trio gewiss kein Ausnahmelied singen. Die Zeit war wie sie war. Barone, Grafen, Fürsten, Kardinäle, Könige und Kaiser, manchmal eigene begnadete Musiker, Komponisten oder Librettisten, deren Namen erst recht nicht aus größerem historischem Zusammenhang wegzudenken sind, zeichneten für ein Musikleben verantwortlich, das wir heute fast wie selbstverständlich genießen. Aber was ist mit unbekannteren Komponisten, Namen, Gönnern?
Mit diesem Artikel möchte ich ihnen gerne Graf Aloys Thomas Raimund von Harrach kurz vorstellen und mit ihm Musik, die nach und nach wieder zu Atem erweckt wird, begibt man sich auf die Spuren in den Archiven. Damit kommen nicht nur die immer wieder aufs Neue verblüffenden europäischen Vernetzunglinien aller Umstände und Protagonisten zum Vorschein, sondern Persönlichkeiten, deren teilweise Unbekanntheit die Spannung der Entdeckung versprechen. Oder – ganz ehrlich – haben sie schon von Sarro, Fiorenza, Reutter, Piani, Barbella, Sarti, Antoni, Mele, Valentine, Montanari, Stulick, Federici, Porsile oder Antoni gehört? Zu Ohren gekommen sein dürften eher Namen wie Sammartini, Leo, Porpora, Vinci und Mancini, gewiss die von Telemann, Fasch und Hasse. Außerdem finden sich – wie üblich – einige anonyme Werke in den Sammlungen, die im Österreichischen Staatsarchiv in Wien sowie der New York Public Library aufgetaucht sind, nachdem sie über Jahrhunderte am Familiensitz Schloss Rohrau aufbewahrt worden waren. Nur ein kleiner Teil der fünfundachtzig Manuskriptbünde lagert noch heute dort. Und damit kurioserweise eben an jenem Ort, an dem oben erwähnter Haydn zur Welt kam und dessen Eltern arbeiteten.
Mehrheitlich handelt es sich bei den Abschriften um Sonaten für Blockflöte beziehungsweise Concerti, auch Kantaten oder Arien (zwar unterschiedlich betitelt, formal oft aber Sonaten oder Konzerte), die neben der Violine für die flauto dolce, speziell die Altblockflöte, gesetzt sind. Auch Lautenwerke, auf die hier allerdings nicht weiter eingegangen werden soll. Doch beide Instrumente machen offensichtlich, warum man nicht viel von Harrach, der womöglich selbst Flötist und Lautenist war, und seinen gesammelten Komponisten weiß. Schließlich sank spätestens ab 1750/1760 der vormals helle Stern der Blockflöte (und der der Laute), sodass mit ihm Flötisten, Tonsetzer, Liebhaber und filigrane Vertreter der höfischen Kammermusik in den langen Dornröschenschlaf der Nichtbeachtung fielen. Der Großteil der Abschriften umfasst dabei Werke italienischer Komponisten, genauer gesprochen, solcher neapolitanischer Herkunft.
Das ist natürlich kein Zufall, bildete Neapel nicht nur ein Zentrum der Flötenmusik, sondern das Zentrum der Musik überhaupt. Nachdem die Stadt im 17. Jahrhundert die größte Stadt Europas war, behauptete sie bis zur Verschiebung nach Wien den Titel als Musikkapitale. Im achtzehnten Jahrhundert hatten ihr Paris und London den einwohnermäßigen Hauptstadt-, nachher bekanntlich alle drei auch den Musikmetropolenrang abgelaufen, sodass sich auch einige Italiener gen London oder Wien aufmachten, wovon die Sammlung aufgrund der unterschiedlichen Komponisten gleichsam Zeugnis gibt. Und mit ihrer Niederlassung zuzüglich der Kopierung in Amsterdam, der Abschriften, Studien, den Bildungsreisen und des höfischen Austauschs in ganz Europa Einfluss auf die Musikwelt nahmen, selbst wenn wenig bekannt. Mit vier der anziehungsstärksten Konservatorien, den Opernhäusern und Kirchen sowie dem Ruf Alessandro Scarlattis (oder Francesco Durantes) verfügte Neapel über die Institutionen zur umspannenden Verbreitung der neapolitanischen Schule, also italienisch galanterer Stilistik. Und was macht Graf Aloys da? Er, der 1669 ins eingesessene Adelsgeschlecht Harrach in Wien geboren wurde, bekleidete neben seinem Amt als Landmarschall Niederösterreichs und als diplomatischer Gesandter nun mal als Vertreter Habsburgs von 1728 bis 1733 den Vizekönigsposten Neapels. Gerade zur allmählich ausschleichenden Blüteperiode der Blockflötenmusik demnach. Während seine angehäuften Gemälde, eine der bedeutendsten Sammlungen italienischer Barockmalerei überhaupt, aus der dortigen Dienstzeit noch heute im Schloss Rohrau zu bestaunen sind, gelangen die musikalischen Schätze erst langsamer wieder an die Öffentlichkeit.
Anteil daran haben natürlich die heutigen Flötenspezialisten auf der Suche nach ihrem mitunter verschollenen Repertoire abseits ausgetretener Pfade und ausgeblasener Luftlöcher. Wer geht nicht gerne auf Entdeckungsreise, selbst wenn das Forschungsinteresse ein mühsames und kostspieliges Unterfangen ist?! So fördern Michael Schneider, Dorothee Oberlinger (mithilfe Reinhard Goebels Spürsinn), Maurice Steger, Inês d'Avena oder Daniel Rothert samt findigen Wissenschaftlern die Kollektionalien zu Tage, bei denen dennoch einiges im Dunkeln liegt. Nicht verwunderlich, wenn die Autorenschaft nicht geklärt werden kann, obwohl die Musik in Konzerten und Aufnahmen hell erstrahlt. Neben den anonymen Zuordnungen unter anderem ein Konzert, das Telemann zugeschrieben und als solches bereits herausgegeben wird. Es ist nicht die einzige Zuschreibung für ihn: allein in der Harrach-Kollektion lassen sich vier weitere finden, die – ich werde nicht müde, es zu betonen – Telemanns Ansehen belegen, wohl aber eben nicht von ihm stammen; zumindest bei zwei Sonaten kann Pepusch (wie wäre die englische Musiklandschaft eigentlich ohne ihn und andere aus der Kollektion?) als Urheber ermittelt werden.
Könnte ich bei Telemann und dem g-Moll-Konzert in Oberlingers vortrefflichem Spotlight verweilen, schwenke ich zu Faschs F-Dur-Fund, den – ebenfalls als einer der ersten Spurensucher – Kollege Schneider machte. Das italienische Concerto besticht durch ein außergewöhnlich hohes Maß an Virtuosität, Figuren- und Verzierungsanforderungen im dabei „leichteren“ Gewand des empfindsameren Gustos, dessen Melodiösität, wie hier im finalen Allegro, in mitwippende Freude versetzt. Da aber selbst Fasch trotz größerer Geläufigkeit (nicht nur in diesen tonlichen Bahnen) eher noch Spezialisten vorbehalten ist, verdeutlicht dies umso mehr den schweren Stand der anderen und die Anstrengungen, die Namen der Vergessenheit zu entziehen. Daher lassen sie mich selbstverständlich noch geschwind zwei Beispiele tatsächlich neapolitanischen Ursprungs und beinahe völliger Verwaisung aus dem hörbaren Konvolut anführen.
Neben dem Oeuvre Scarlattis, besonders natürlich den Werken von Francesco Mancini, dann von Leonardo Leo, Giovanni Antonio Piani und Nicola Antonio Porpora muss unbedingt Domenico Sarro genannt werden, der nach dem Tod Alessandro Scarlattis zur einflussreichsten Musikerpersönlichkeit Neapels avancierte, traute man ihm die Festoper zur Eröffnung des berüchtigten Teatro San Carlo 1737 an, als er ebenfalls Mancini als Hofkapellmeister ablöste. Nach seiner Geburt in Apulien kam er zum Studieren nach Neapel und ging auch nicht wieder weg, bis er 1744 starb. Seine Kompositionsart bezieht in der Tradition Mancinis Kontrapunkt genauso mit ein, wie sie bei der Blockflöte das Singhafte und Dramatische hervorhebt. Maurice Steger und sein Ensemble veranschaulichen dies mit dem d-Moll-Konzert, das idiomatisch die theatralische Expressivität der menschlichen Stimme vor Augen führt.
Nicolò Fiorenza war Neapolitaner durch und durch. Etwas nach 1700 dort geboren, verbrachte er sein ganzes Leben, das 1764 endete, in der Stadt, studierte am Conservatorio Santa Maria di Loreto, u.a. zusammen mit dem ebenfalls dort beheimateten und an den Streichinstrumenten ausgebildeten Francesco Barbella. Fiorenza war ab 1726 Musiker im königlichen Hofkapellenorchester, dessen Position als erste Violine er 1758 übernahm. Ab 1743 fungierte er als Lehrer der Streicherklasse an seinem früheren, von Durante geleiteten Hochschulinstitut, dass sich 1762 gezwungen sah, ihn wegen gewalttätiger Übergriffe und Bedrohungen gegenüber seinen Schülern zu entlassen. Den neapolitanischen Musikstil verkörperte er mit galanter Melodiehaftigkeit, kurzen rhythmischen und thematischen Phrasen, die (auch im Sinne des Ausführenden) leicht atmen lassen. Einen wunderbaren Eindruck von den knappen, so typischen Figuren oder rhythmischen Mitteln, die dennoch einen anderen Charakter erzeugen, gewinnt man u.a. in diesem a-Moll-Konzert, das Inês d'Avena und ihr La Cicala Ensemble einspielten.
Wer all das in Zeiten coronabedingter Freizeitbeschäftigung über diesen allgemeinen Überblick hinaus vertiefen möchte, dem sei gar die Dissertation Inês de Avena Bragas (Dolce Napoli – Universität Leiden) ans Herz gelegt.
Ich denke und hoffe, dass wir in Zukunft noch etwas mehr von den Komponisten hören werden. Und damit immer mehr von der Musik der Zeit in all ihrer Breite. Harrachs gesammelter Werke sei Dank. Gleich klingelt bei Harrach der Name Aloys älteren Bruders Franz Anton mit, der als Fürsterzbischof von Salzburg amtierte. Mit ihm tun sich also weitere Schätze auf, die noch im Verborgenen liegen. Aber das ist eine andere Geschichte...