Als Georg Philipp Telemann 1721 seinen Dienst als Musikdirektor der Stadt Hamburg in Personalunion mit der Stelle des Kantors des Johanneums – das Pendant zum Thomanerposten in Leipzig, den der Komponist ein Jahr später, auch mit der Übernahme der Intendanz der bedeutenden Oper am Gänsemarkt, für eine ordentliche Gehaltserhöhung und bessere Wohnung ausschlagen sollte – antrat, durften sich die kulturpolitischen Verantwortlichen über den größtmöglichen Coup freuen. Vergleichbar mit heutigen Weltstars am Pult oder in der Kompositionswerkstatt, die Glanz, Name, Erfahrung, Beständigkeit, Aufbruch und Vision in die Stadt bringen sollen, gelang es Hamburg, Telemann aus Frankfurt am Main abzuwerben und für die Erfüllung der in ihn gesetzten Erwartungen trotz eines über dreißig Jahre dauernden nervigen Rechtsstreits mit dem Ratsdrucker bis zum Lebensende an der Elbe zu halten.

Georg Philipp Telemann (Porträt von Valentin Daniel Preisler)
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Von der Elbe kam Telemann schließlich durch Geburt, doch war es Magdeburg, von wo aus er in elterlicher Fürsorge zunächst nach Zellerfeld und Hildesheim zur Schule geschickt worden war, um sich vor allem allgemein statt besonders musikalisch zu bilden. Dass Telemann beides – Letzteres zum Missfallen von Vater und Mutter, außerdem im Erlernen von Instrumenten das meiste autodidaktisch – tat und vor der Einschreibung zum anschließenden Jurastudium in Leipzig noch den seitdem mit ihm innig befreundeten Georg Friedrich Händel in Halle besuchte, belegt schon in jungen Jahren dessen Fähigkeiten. Vieles unter einen Hut zu kriegen, Kontakte zu knüpfen und sich bei allen gesellschaftlichen Vorgaben den Blick für das Eigene fest vor Augen zu bewahren. 

Nicht von ungefähr kommt Telemanns Ruf der Zeit, als angesehenster Komponist zu gelten, der gleichzeitig einen so kenntnisreichen, vernetzten und individuellen, inspirierenden wie umgänglichen Habitus als sprachenversierter, humorvoller, wirtschaftlich agierender, schreibender  und verlässlicher Mensch besaß. Zu denken ist an seine erste Stelle in Leipzig, wo er die Stadt mit der Gründung des Collegium Musicum, Kantaten und Opernaufführungen prägen sollte. Zwar zu gewissen neiderfüllten Ungunsten von Musikdirektor und Thomaskantor Johann Kuhnau, aber zu besagtem unvergesslichen Eindruck an höchster politischer Stelle, bei den Studenten und Kollegen Graupner, Fasch oder Pisendel und später bei Johann Sebastian Bach, dessen Freundschaft zu familiärer Verbundenheit mit Patensohn Carl Philipp Emanuel, seinem Hamburger Nachfolger, führte. 

Erwähnt werden muss im Hamburger Zusammenhang – denn es hängt eben alles mit allem zusammen – zudem Telemanns Station in Sorau, wo die ihm entgegengebrachten Weihen als musikalisch würdigster Versailles-Vertreter Deutschlands nicht nur dazu verhalfen, seinen berüchtigten polnisch-hanakischen Stil zu begründen, sondern auch Bekanntschaft mit Erdmann Neumeister zu machen. Jener Neumeister, dem wir nach bisher noch weiter anzutreffendem, älterem Stand der Wissenschaft die theatralische Rezitativ-Arien-Form des 18. Jahrhunderts verdanken – es war doch eher schon Constantin Christian Dedekind –, wirkte nämlich später als poetisierender Pfarrer in Hamburg und dürfte mit dem allseits bekannten Texter Barthold Heinrich Brockes seine Finger mit im Spiel für die Besetzung der Stelle des Mannes gehabt haben, der auf deren und die angesagtesten Arbeiten anderer berühmter Dichter gerne zurückgriff.

Hamburg (1682): St Michaelis, St Nicolai, St Katharinen, St Petri, Alter Mariendom, St Jacobi
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Die Strippen in Hamburg zog derweil ebenfalls Johann Mattheson, mit dem – Händel kann davon leibhaftig berichten oder mitunter auch Reinhard Keiser – trotz aller Hochachtung („Ein Lulli wird gerühmt; Corelli lässt sich loben; [...] Nur Telemann allein ist übers Lob erhoben.“) nicht immer gut Kirschen essen war. Doch auch hier arrangierte sich Telemann in geschickt-gelebter, selbst höchste Anerkennung findender Diplomatie und gewieftem Auskommen mit dem Direktor des Hamburger Doms, mit dem er so manche gleiche Strebsamkeit verband und deren daher beäugtes, standhaftes und interessantes Verhältnis in eleganter, süffisanter Korrespondenz nachvollzogen werden kann.

Telemanns Ausstrahlung und Qualitäten lassen sich – im wahrsten Sinne – darüber hinaus durchgehend ablesen. So hielt er nach seinem Weggang aus Eisenach in die verlockend unabhängigere „freie Republik“ Frankfurt weiter Kontakt an den sächsischen Hof und komponierte wiederum aus Hamburg heraus auch nach dem Verlassen der Metropole am Main Kantaten für seine jeweils vormaligen Arbeitsstellen. Zusätzlich simultan diente er noch kurzzeitig als Kapellmeister in Bayreuth und betrieb ab 1728 seine eigene Musikzeitschrift. Außerdem brachte Telemann die so ungeheuer zahlreichen Werke im Selbstverlag heraus, berappelte sich finanziell auskömmlich nach dem stattlichen Verlust seines Vermögens durch die unselige Glücksspiellust seiner Ehefrau, sammelte Blumen und unternahm Reisen. Eine davon war die nach Paris, die ihm 1737/38 als erstem Deutschen die Ehre einheimste, im Concert Spirituel aufzutreten. Johann Heinrich Rolles Kondolenzschreiben 1767 fasst zusammen: „Wie viele Jahre wäre vielleicht die Music in Deutschland nicht noch elend und erbärmlich geblieben, wenn kein Telemann aufgestanden, der durch sein göttliches Genie und durch seinen überaus großen Fleiß die Music aus der Finsterniß herausgezogen, und ihr einen ganz anderen und neueren Schwung gegeben?“

Zum Amtsantritt in Hamburg stellte sich Telemann am 16. Oktober 1721 mit drei Kantaten vor, die die Hamburger Telemann Gesellschaft in jubiläumsgetreuer wie jubilierender Erinnerung an diese einmalige Blütezeit der Hansestadt in der ältesten lutherischen Hauptkirche St. Petri aufführen wird. Mit der selbst auf eine über 500-jährige Geschichte zurückblickenden Hamburger Ratsmusik (Simone Eckert) und dem Vokalensemble Albis Cantores unter der Gesamtleitung des kürzlich ausgeschiedenen Thomaskantors Gotthold Schwarz erklingen am 20. Oktober die Werke, deren Titel sich – die göttliche Anmaßung sei für meine musikalische Instanz einmal erlaubt – beinahe wie prädestiniert zur marketing- und wertbewussten Beschreibung Telemanns Könnens und Person lesen: Kommt her zu mir alle, Es ist ein großer Gewinn und Gesegnet ist die Zuversicht. Bereits einen Monat zuvor hatten die Choristen des Johanneums ihrem vor 300 Jahren eingesetzten neuen Leiter mit erstgenannter Kantate die gebührende Referenz erwiesen. 

In die vorherige Dienstzeit in Frankfurt dagegen versetzt sich Felix Koch in einem über sieben Jahre angelegten Kantaten-Projekt, das er mit seinem Neumeyer Consort instrumental und gesanglich dem von renommierten Solisten einstudierten und aufstockend daraus selbst hervortretenden Ensemble Gutenberg Soloists angeht. Durch die Kooperation mit dem Collegium Musicum der Uni Mainz beziehungsweise der Hochschule für Musik, deren Alte-Musik-Abteilung Koch als Professor betreut, schließt man historisch an die von Telemann begründete Studenten-Musik an und möchte in übergreifender Zusammenarbeit mit dem Magdeburger Telemann-Zentrum, der Frankfurter Telemann Gesellschaft und dem dortigen Forum Alte Musik, dem vom Telemann verfallenen Burkhard Schmilgun angeführten Label cpo (deren Reihe mit Ersteinspielungen durch Michael Alexander Willens, Florian Heyerick, Hermann Max, Michael Schneider und Ira Hochman stetig wächst) und dem Notenverlag Canberra Baroque für die weltweit erste Gesamteinspielung Telemanns Jahrgangs 1714/15 sorgen. 

Dieser wird als „Französischer Jahrgang“ bezeichnet, atmen die davon 72 existierenden Stücke, von denen 51 vom Team ediert werden müssen, doch Ausdruck und Stil des musikalischen Apparats in Eisenach. Dort hatte Telemann, in Verstetigung seines Geschmacks, Talents und Ansehens von Sorau, ein Orchester „nach französischer Art“ aufgebaut. Bonne chance also für dieses Unterfangen, das Ende letzten Jahres begann und in diesem Herbst mit Aufnahmen fortgesetzt wird. Vielleicht ertönt auch demnächst das ein oder andere – durch die Coronapandemie zurückgeworfene – Konzert. Dann lässt sich daran erinnern, wie Telemann vor der Kirche stand, die eigens angefertigten Libretti verkaufte und so die Eintrittskarte mit Programm erfand. Faszination Telemann.