Was die Dezibel angeht, sorgten Strawinsky und Bartók dafür, dass Valery Gergievs Amtszeit als Chefdirigent des London Symphony Orchestra  mit einen Knall endete und eine kurze Konzertserie in der Pariser Philharmonie, dem Barbican und dem Lincoln Center in New York abschloss. Weder die internationale Presse noch das Orchester begangen das mit großer Zeremonie. Neben einer Präsentation am Ende seines letzten Barbican-Konzertes bekommt man das deutliche Gefühl, dass das LSO einen Seufzer der Erleichterung ausstößt.

Während seiner acht Jahre als Leiter des Orchesters wurde unvermeidliche Kritik immer wieder erwähnt, die sich um Gergievs vollen Terminplan und das Gefühl drehte, dass er nicht genug Zeit hier in London verbringt. Ein Mangel an Probenzeit hat zu einem Eindruck von Routine in manch einem Konzert geführt, obwohl wieder andere – beispielsweise die Dornröschen-Prom, bei dem das LSO vom Blatt zu spielen schien – eine Aufregung vermittelten, die einen gebannt auf de Stuhlkante sitzen ließen... wenngleich die wahrscheinlich für das Orchester weniger spannend waren als für das Publikum!

Ich bin mir jedoch sicher, dass Clive Gillinson, der Geschäftsführer des LSO zu der Zeit, zu der Gergiev 2005 zum Chefdirigenten ernannt wurde, ganz genau wusste, worauf sich das Orchester einließ. Gergiev würde das Mariinski nie aufgeben, das er (unter seinem alten Kirow-Banner) in den 1990ern ins Rampenlicht katapultierte. Sein Terminplan ist Wahnsinn. London würde immer zweite Geige spielen.

Ich habe sein Dirigat jahrzehntelang geliebt. Wenn ich die besten zehn Konzerte aufgezählt habe, die ich je gesehen habe, machten Gergievs leicht die Hälfte davon aus: eine dämonische Vierte Symphonie von Schostakowitsch mit dem Kirow Orchester bei den Proms 2002 hat sich mir eingebrannt, nicht zuletzt wegen der unglaublichen Stille am Ende, die sich minutenlang zu halten schien; aufregend Scheherazade, Feuervogel und Daphnis et Chloé mit dem Philharmonia Orchestra im Rahmen von Gergievs Diaghilev-Reihe am Southbank Centre 2000, erschütternd Schostakowitschs „Babi Yar“ mit dem Mariinski, wieder bei den Proms. Sie erkennen das Muster? Ja, alles russisches Repertoire. Das ist, was er am besten macht. Es war sein Zyklus mit Prokofjew-Symphonien, zu Gast beim LSO 2004, der den zündenden Funken zu dieser Beziehung gab (Gergiev hatte das Orchester davor nur ein Mal dirigiert, in 1988), und es ist nicht überraschend, dass es das russische Repertoire ist, das während seiner Zeit in London am besten angekommen ist. Die konzertante Aufführung von Prokofjews Romeo und Julia (2008), in Folge auf LSO Live veröffentlicht, war atemberaubend, Schostakowitschs Fünfzehnte kürzlich elektrisierend.

Wo Gergiev von seinem bekannten Repertoire abgewichen ist in seinen 310 Konzerten als Chefdirigent war das Ergebnis nicht immer überzeugend. Ein launiger Mahler-Zyklus und etwas variabler Brahms funktionierten weniger gut als seine Vorstöße in französische Musik. Und doch wünschte ich, er wäre abenteuerlustiger gewesen. Sir Colin Davis führte den Großteil des englischen Repertoires des Orchesters ins Feld, doch in Anbetracht von Gergievs Stärken bei Schostakowitsch hätte ich ihn liebend gerne einmal mit Vaughan Williams' Vierter Symphonie gehört. Ihn und auch Elgar zu ignorieren scheint mir eine verpasste Gelegenheit.

Ich bin sicher, dass Sir Simon Rattle in seinen LSO-Programmen mehr Sinn für Abenteuer zeigen wird; ebenso bin ich mir sicher dass er etwas zu wichtigen Aspekten der Musikvermittlung zu sagen hat und künstlerische Leitung über die Grenzen des Orchesters hinaus bieten wird. Gergiev hat genau das getan, was von ihm erwartet wurde – nach London düsen und mit charakteristisch flatternden Fingern und Zahnstocher-Taktstock russische Kost herunterreißen. Das Ergebnis war gänzlich vorhersehbar, weshalb es mir kleinlich scheint, ihn dafür zu rügen, dass er alle Erwartungen erfüllt hat, wenn er nun still wieder nach St. Petersburg zurück schleicht. Wenigstens bekommen wir jetzt vielleicht ein paar Mariinksi-Touren mehr...



Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.