Die Ballettwelt stand Kopf, als Benjamin Millepied gestern seinen Entschluss verkündete, als Direktor des Pariser Opernballets zurückzutreten, etwas mehr als ein Jahr, nachdem er den begehrten Posten angenommen hatte. In einer Pressekonferenz betonte Millepied den Wunsch, sich zu 100% auf das Schaffen zu konzentrieren anstatt der unvermeidlichen Verwaltungs- und Leitungsaufgaben, die mit der Position einhergehen. Der charismatische französische Choreograph, ein ehemaliger Solotänzer des New York City Ballets, erlangte mit seiner Arbeit im Film Black Swan schlagartig internationalen Ruhm. Sein schockierender Abschied kommt zu einem prekären Zeitpunkt, nur einen Tag vor der Premiere seines La nuit s'achève im Rahmen eines gemischten Programms am Palais Garnier heute Abend, und eine Woche vor Ankündigung der neuen Pariser Spielzeit.

„Was für mich wichtig ist, ist, zu kreieren, von den Tänzern inspiriert zu werden, und heute ist dieser Job in dieser Art nicht für mich gemacht“, erklärte Millepied. Er wird nach Los Angeles zurückkehren, um sich auf seine eigenen Choreographien und sein Ensemble, das LA Dance Project zu konzentrieren. Er wird in der kommenden Spielzeit zwei Werke für Paris choreographieren.

Stéphane Lissner, Direktor der Opéra de Paris, kommentierte enigmatisch, dass Millepied „zu früh geht, doch andere gehen zu spät.“ Ehemalige Primaballerina Aurélie Dupont, die sich im vergangenen Jahr aus dem aktiven Tanzleben zurückgezogen hat, wurde als neue Leiterin angekündigt und wird ihren Posten antreten, wenn Millepied Paris im Juli offiziell verlässt. Sie erklärte umgehend, dass sie „kein Talent“ als Choreographin habe und auch keine Ballette für die Kompanie schaffen wird. Das wirft eine interessante Frage auf, und eine, die nicht nur für die Ballettwelt von Bedeutung ist. Kann der künstlerische Leiter einer internationalen Kompanie diese Führungsrolle mit dem Wunsch vereinbaren, Kunst zu schaffen?

Es ist eine Frage, die London lange erwogen hat. Im Dezember verkündete Kasper Holten, Direktor der Royal Opera, dass er Covent Garden 2017 verlassen und nach Dänemark zurückkehren wird. Seit er in dieser Rolle aktiv ist, hat Holten in einer Handvoll Produktionen für die Kompanie Regie geführt und ist auch internationalen Rufen gefolgt. Derzeit bereitet er eine Neuinszenierung von Wagners früher Oper Das Liebesverbot in Madrid vor, die später auch nach London kommen wird. Als Leiter der Royal Opera war er erfrischend offen, geschickt in sozialen Netzwerken, und hat einige europäische Regisseure für Neuproduktionen gewonnen, die beim Publikum oftmals starke Reaktionen hervorgerufen haben.

Die Suche nach neuen Kandidaten nimmt dieses Frühjahr Fahrt auf – dass es keine offensichtlichen Kandidaten gibt, ist an sich schon vernichtend – und es bleibt eine Frage: sollte die Royal Opera überhaupt einen künstlerischen Leiter ernennen, der gleichzeitig auch Produktionsregie führen will? Sollte jemand ernannt werden, der der Kompanie mit seinen Produktionen seinen eigenen Stempel aufdrücken will, oder sollte es eine gänzlich geschäftsführende Rolle sein? Für Millepied in Paris bedeutete die Frustration, nicht schaffen zu können (oder nicht so viel wie er wollte), den Rücktritt von seinem Posten. Für Regisseure wie Barrie Kosky, der brillante künstlerische Leiter der Komischen Oper Berlin, kann man sich nicht vorstellen, dass er nicht auch Regie führt. Er hat die Kompanie zu seiner gemacht mit seinen gewagten Inszenierungen, die internationale Anerkennung fanden, einschließlich in einer Auszeichnung zur Opernkompanie des Jahres in den International Opera Awards 2015.

Doch Barrie Kosky ist nicht nur ein einmaliges Phänomen, das Ballett der Pariser Oper und die Royal Opera sind auch viel größere Kompanien, und der Zeitaufwand muss für einen künstlerischen Leiter enorm sein. Das gilt in beiden Richtungen: Regieaktivität nimmt auch Zeit in Anspruch, die für das Führen einer Kompanie gebraucht wird.

Meiner Meinung nach erwächst auch ein Konflikt aus der Situation, in der ein künstlerischer Leiter andere Regisseure einlädt, um an ihrer oder seiner Kompanie zu inszenieren. Was, wenn ihre Arbeit nicht gut genug ist? Katharina Thomas Produktion von Un ballo in maschera 2014 hätte von Holten abgelehnt werden müssen. Es war eine laienhafte Inszenierung, in der das Bühnenbild aus Pappe vor Scham zitterte, und der Royal Opera nicht würdig. Es ist viel schwieriger, in den sauren Apfel zu beißen und einem Regisseur zu sagen, noch einmal von vorn anzufangen, wenn es sich dabei auch im einen Kollegen handelt. Was die Royal Opera braucht ist das Londoner Pendant zu Aurélie Dupont – jemand, der die Kompanie liebt und sie in ihrem besten Interesse leitet, ohne die Ablenkung dessen, neue Werke zu kreieren. Elaine Padmore hat diese Rolle zuvor in Covent Garden sehr gut gemeistert, ebenso in Wexford und der Königlichen Oper Kopenhagen. Lasst Choreographen choreographieren. Lasst Opernregisseure inszenieren. Aber lasst unsere künstlerischen Leiter leiten.



Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.