Ich bezweifle, dass ein Cembalo je einen Aufstand verursacht hat, nicht in hunderten von Jahren. Bis heute. In einem Konzert mit dem Concerto Köln traf der iranisch-amerikanische Cembalist Mahan Esfahani mit einem moderat „modernen“ Stück auf solchen Widerspruch seitens einiger Zuhörer, dass davon das Konzert radikal unterbrochen wurde.
Esfahani berichtet, dass er Steve Reichs Piano Phase in einer Fassung von live-Cembalo gegen eine Aufnahme spielte, für die er Kopfhörer tragen mussten. Nach kurzer Zeit sei lautes Klatschen aus dem Publikum erklungen, das sich zu Rufen und gegenseitigem Niederschreien zwischen verschiedenen Fraktionen des Publikums auswuchs. Das jedoch kam nicht aus dem Nichts; die Situation scheint sich von Anfang an zu diesem Ausbruch gesteigert zu haben. „Reden Sie gefälligst Deutsch!“, habe jemand gerufen, als Esfahani das Konzert auf Englisch einführte. Nach der lautstarken Unterbrechung von Reichs Stück versuchte Esfahani mit seinem Publikum in Dialog zu treten. „Wovor haben Sie Angst?“ Doch Bereitschaft zum Dialog gab es keine.
Diese Begebenheit zieht alarmierende Parallelen zu einer weiteren, höchst aktuellen Situation in Deutschland und anderen europäischen Ländern. In einer Welt, in der wir so viel wissen, und in der Information immer und überall verfügbar ist, sind die Dinge, die wir nicht kennen oder nicht wissen wollen, auch die, die uns am meisten Angst einflößen, seien es andere Menschen oder unbekannte, „neue“ Kultur (darf ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Piano Phase vor fast fünfzig Jahren komponiert wurde!). Es ist eine Situation, in der einige wahrscheinlich deutsche Besucher sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Ich sage einige, denn der Großteil des Publikums stand hinter den Musikern und entschuldigte sich öffentlich. Das gilt auch für die Kölner Philharmonie, die Esfahani umgehend eingeladen hat, das Stück im März des kommenden Jahres noch einmal in Köln zu präsentieren.
In seinem Kommentar zu diesen „verbalen Brandstiftern“ zieht Axel Brüggemann einen brennenden Vergleich zwischen diesen wenigen Hörern und den Menschen, denen es unmöglich ist, jegliche Kultur außer ihrer eigenen zu akzeptieren und losziehen, um Flüchtlingsunterkünfte in Brand zu stecken. So mancher wird hier die klamme Angst nicht los, dass die Geschichte sich wiederholt, und als Deutsche bin ich schlicht schockiert über die Intoleranz und den Unwillen, Bedürftigen zu helfen – ein Unwille zur Akzeptanz, der sich nun in das Reich der Musik auszuweiten scheint. Ich kann nicht nachvollziehen, wie nicht nur einzelne Bürger, sondern ganze Länder ihre Türen und Herzen verschließen.
Ich bin selbst Einwanderin und wurde bisher überall mit offenen Armen empfangen (wofür ich mich unendlich glücklich schätze), und oft hatte das mit Musik zu tun. Sie wird oft als Sprache bezeichnet, die jeder versteht, und während das vielleicht auf die moderneren Dialekte nicht immer zutreffen mag, so spricht das traditionellere Idiom doch eine Breite Masse aller Altersgruppen, Interessen und Herkünfte an. Musik ist in mehr als nur einem Sinne multikulturell, und sie kann es nur durch eine Vielzahl verschiedenster Einflüsse sein: sie lebt und atmet Vielfalt.
Seit hunderten von Jahren sind Musiker und Komponisten aus aller Welt in die großen Städte und die großen musikalischen Zentren gereist, um dort von den Meistern nicht nur ihre hochgelobte, lang perfektionierte Kunst zu lernen, sondern auch ihre neuen Ideen und teils bahnbrechenden Methoden – und, um sich auszutauschen und von einander zu lernen. Es ist eine bewundernswerte Neugier auf das Neue, die diese Menschen dazu führte, hunderte von Kilometern in klapprigen Postkutschen zurückzulegen, und diese Neugier ist nicht nur ein Ding vergangener Tage. Die moderne Gesellschaft ist international; unsere moderne Welt erlaubt uns, jede Information praktisch überall zu jeder Zeit abzurufen, und sie ermöglicht es uns, nahe und ferne Orte mit Leichtigkeit zu erreichen, ob wir nun Musiker sind oder nicht. Das gibt vielen von uns die Möglichkeit, auch neugierig zu sein, das Unbekannte zu erfahren, Ängste und Vorurteile abzulegen und uns mit den Bräuchen anderer zu befassen – wir müssen sie nur nutzen. Doch liegt hierin das Problem?
Wir werden mit Möglichkeiten überflutet; manchmal habe ich das Gefühl, dass es in Bezug auf Musik kaum etwas gibt, das uns heutzutage noch schockieren kann. Die Zeiten von Strawinskis Sacre, die Zeiten in denen eine Komposition mächtig Aufruhr im Publikum verursachte, scheinen lange vorbei. Wir haben alles gesehen, alles gehört, doch ein vergleichsweise „altes“ Stück lässt uns misstrauisch aufhorchen, und ich frage mich, sind wir bei all dieser Fülle verbittert? Haben wir das Interesse am „Anderen“ verloren, die Motivation, weiße Flecken auf der Landkarte zu erkunden? Wann ist uns das zu mühselig geworden?
Es ist wahr, bevor wir etwas akzeptieren können, werden wir oft mit neuen, anderen Ideen ringen, und das ist wichtig. In diesem Ringen versuchen wir, zu verstehen, wir werden zweifeln und vielleicht aufgeben, doch wir werden es auch hoffentlich noch einmal versuchen. Musik beispielsweise ist da, um genossen zu werden. Musik ist aber auch da, um uns jeden Tag aufs Neue herauszufordern, uns zu zwingen, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten und über den Tellerrand zu schauen. Sie ist nicht da, um immer gefällig zu sein. Ein Stück mag nicht immer gefällig sein, vielleicht mögen wir nicht alles oder auch gar nichts davon, doch was wir mit unserem Wissen über das Nicht-Gefallen tun macht den großen Unterschied. Wir dürfen uns dem nicht verschließen, was wir vielleicht nicht verstehen oder unmittelbar mögen. Wir brauchen offene Türen, einen unvoreingenommenen Geist und offene Ohren. Machen wir uns die Mühe. Nehmen wir die Herausforderung an, die die Musik uns stellt. Seien wir neugierig. Kehren wir zu einem Musikstück zurück, dass uns vielleicht nie besonders gut gefallen hat, und einmal bemerken wir plötzlich, dass sich da etwas in der Komposition versteckt – vielleicht eine Harmonie, vielleicht eine Melodie, ein Rhythmus, oder etwas ganz anderes – das uns tief im Inneren berührt wenn wir es zulassen.
Mahan Esfahani hat bei einigen seiner Hörer sicherlich etwas angerührt und eine sehr ablehnende Reaktion hervorgerufen. Ich mag mir nicht vorstellen, was hätte passieren können, wenn er ein „wirklich“ zeitgenössisches, weniger zugängliches Stück gespielt hätte, doch dieser Zwischenfall zeigt uns Musik, wie sie sein soll: sie sprengt Grenzen und fordert uns heraus. „Ich […] bin ziemlich sicher, dass sich das Cembalo nie in einer vergleichbaren Situation befunden hat, in der es einen regelrechten Zusammenbruch im Konzertsaal verursacht hat“, schreibt Esfahani in einem Kommentar. „Für mich ist das unbeschreiblich wundervoll. Wenn dieses Instrument Meinungen bilden kann, haben wir eine heiße Spur.“