Hand aufs Herz: Wann haben Sie zum letzten Mal im Theater vor Rührung geweint? Mir ist das am Samstag ganz unerwartet beim aktuellen Tanzabend Woven state des Nederlands Dans Theaters passiert. Schon zu Beginn der sehr energiegeladenen, rauen Choreographie One flat thing reproduced von William Forsythe schnappte ich nach Atem und war nach wenigen Minuten so im Bann dieses beispiellosen Farb-, Musik- und Bewegungsbombardements, dass ich meiner Emotionen nicht mehr Herr werden konnte und wollte. Ich probiere immer noch zu ergründen, was mich an dieser mitreißend getanzten, geometrisch fein gezirkelten Tanzpartitur nun eigentlich so berührt hat.
Über Forsythes Verdienste für den modernen Tanz zu schreiben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Nach unzähligen Preisen und Auszeichnungen bekam der über 70-jährige im letzten Jahr auch noch den Deutschen Theaterpreis Der Faust für sein Lebenswerk (wie als Choreograph nur Pina Bausch vor ihm).
Über die Entstehung und Weiterentwicklung von OFT offenbarte Forsythe in einem Interview mit dem belgischen Komponisten und Filmemacher Thierry de Mey (2006), er sei u.a. durch Bücher über Südpolexpeditionen dazu inspiriert worden. Die 20 im Stück benutzten Tische sind nicht nur glatt wie Eis, sondern auch durchsichtig. Zudem sind die circa 30 von den Tänzern getanzten Bewegungsfolgen (Themen) sowohl kontrapunktisch miteinander verzahnt, liegen aber auch wie allerdünnste Schneeflockenlagen schichtweise aufeinander. Was die Koordination der Tänzer betrifft, ist diese vergleichbar „mit einer Gruppe von Dirigenten ohne Orchester“. Das Stück besteht aus Folgen von aufeinanderfolgenden Cues. Es beginnt mit einer Bewegung, auf die ein anderer Tänzer mit einer anderen reagierte, welche wiederum eine Folgereaktion auslöste usw.. So hängt die komplizierte Choreographie von OFT wie von einem Marionettenspieler inszeniert an seidenen Drähten aneinander.
Dazu kommen die atemlos-archaischen, verwirrenderweise sehr zum explosiven Tanz passenden elektronischen Klänge von Thom Willems, mit dem Forythe schon seit 1985 zusammenarbeitet. Die Partitur bietet den Tänzern zwar wenig rhythmischen Halt, verstärkte aber die Heftigkeit ihrer emotionsgeladenen Choreographie. Forsythe hatte ausführlich über die Abfolge seiner Themen nachgedacht und sie so aneinandergereiht, dass die Konzentrationsspanne des Publikums optimal wachgehalten wurde. Die dadurch entstehende Sogwirkung vervielfacht sich noch durch die grellbunten, individuell kontrastierenden Kostüme von Stephen Galloway. So sah der Zuschauer ein Feuerwerk von springenden, kugelnden und einander stützenden oder anmutenden Tänzern, die virtuos auf, über oder unter den in exakten Abständen aufgestellten Tischen balancierten. Das so entstandene unglaubliche Tanzspektakel nahm alle Sinne gleichermaßen gefangen.
Es ist aber auch möglich, dass meine Emotionen vom vorigen Stück, Of Any If And herrührten und sich erst mit zeitlicher Verzögerung im Folgenden Luft verschafften. In diesem zweiten Stück des Programms, einem vielschichtigen Pas de deux, verarbeitete Forsythe 1995 den Tod seiner Frau. Die wunderbar einfühlsam tanzende Nicole Ishimaru, ein und all Hingabe in jeder Faser ihres Körpers wurde vom virtuosen Bilderbuchathleten Luca Tessarini mit größter technischer Perfektion begleitet, getragen und umgarnt. Am eindrucksvollsten war die Passage, in der Ishimaru hinter ihm stehend, seine Arme durch leichte Berührungen am Rücken zu ekstatische Bewegungen veranlasste. Selten habe ich ein mehr aufeinander eingespieltes Paar tanzen gesehen. Auf der schwarz-weiß beleuchteten Bühne saßen die Tänzer Nicole Ward und Donnie Duncan Jr und zitierten kaum zu verstehende Texte wie ein langes ununterbrochenes Trauergebet. Aus dem Bühnenhimmel wurden dazu langgereckte Texttafeln heruntergelassen, in deren Abfolge es unzählige Leerstellen gab. Diese lückenhaften Texte ergaben keinen Sinn, erweckten jedoch durch ihren ständigen Wechsel immer wieder die nicht ersterben wollende Hoffnung auf eine mögliche Vervollständigung. Diese bleibt aus und unterstreicht die versengende Sinnlosigkeit, mit der ein jeder Tod uns zurücklässt.
Und dabei begann Woven state mit einer witzig spritzigen Uraufführung. Das 2002 entstandene N.N.N.N. war um 8 Tänzer zu N.N.N.N.N.N.N.N.N.N.N.N. erweitert worden. Die Dekonstruktion des klassischen Tanzes feiert in diesem genialen Werk einen seiner Höhepunkte. Die zwölf Tänzer behandelten ihre Gliedmaßen als wären sie Fremdkörper, was irrwitzig komische und gleichzeitig auch tragische Szenen hervorbrachte. Auch hier war das improvisatorische Element des Miteinanderverbundenseins und das Aufeinanderbezogenseins Ausgangspunkt einer Kette von kurzweiligen Kleinstgeschichten. Als Musik hörte man dazu nur den rhythmischen Atem der Tänzer. Man konnte im Saal eine Stecknadel fallen hören!