Der kompositorische Nachlass von Mieczysław Weinberg kann sich schon vom Umfang her sehen lassen: Über zwanzig Symphonien, zehn Solokonzerte und sechs Opern hat der 1919 geborene Pole geschrieben, dazu umfangreiche Kammermusik. 1939 musste er wegen seiner jüdischen Wurzeln aus Warschau emigrieren, kam über Minsk und Taschkent nach Moskau, wo er in enger Freundschaft die Wertschätzung Dmitri Schostakowitschs erlangte, sich aber als Pianist und mit optimistischer Filmmusik zu kommunistischen Arbeiterschicksalen mühsam seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Und obwohl Weinbergs klassische Werke durch Solisten vom Rang eines David Oistrakh oder Mstislav Rostropovich uraufgeführt wurden, blieb sein Œuvre im westlichen Konzertbetrieb lange unentdeckt. Erst in den letzten Jahren hat sich Gidon Kremer zusammen mit seiner Kremerata Baltica für das Schaffen Weinbergs, der 1996 in Moskau verstarb, stark gemacht; für sein Cellokonzert c-moll, Op.43 setzt sich immer wieder Sol Gabetta leidenschaftlich ein, wurde damit sogar 2019 zu den Proms in der Londoner Royal Albert Hall eingeladen. Nun bekam sie dafür ebenso begeisterte Zustimmung im Konzert der Bamberger Symphoniker, die es erstmals auf das Programm gesetzt hatten, vom jugendlich charismatischen Krzysztof Urbański furios geleitet.
Schon nach wenigen Takten war man gefesselt, wie Sol Gabetta und die Symphoniker sich auf diese schicksalstrunkene, zwischen schnellem Aufflammen und wieder in völlige Einsamkeit zurückfallende Musik einließen. Urbański baute mit fein federnder Gestik und magischen Handbewegungen Weinbergs Konzert hochemotional anklagend wie reflektierend auf. Im einleitenden Adagio, in anfangs oszillierende Streicherakkorde gebettet, stimmte Gabetta auf ihrem Instrument einen suggestiven Gesang an wie von innerer Freiheit, in breitem dynamischen Umfang, harmonisch in weiten Melodiebögen wie das Lamento eines jüdischen Kantors; nur sparsam und zurückhaltend kommentierte das Orchester mit eher düsteren Motiveinwürfen.
Ob Weinberg fürchtete, mit den Zitaten jüdischer Volksmusik den Erfolg des 1948 geschriebenen Konzerts zu gefährden? Erst 1957 gelang es mit Rostropovich zur Uraufführung in Moskau. Genau diese Reminiszenzen an chassidische Tänze und Klezmer charakterisieren den zweiten Satz Moderato; rhythmisch prägnant kamen aus dem Orchester zum Mitschwingen einladende Beiträge der Soloflöten und Klarinetten, antworteten die Trompeten mit lustig kecken Jazzmotiven. Mit einer virtuosen großen Solokadenz leitete Gabetta über ins aktive und fast widerspenstig heitere Schluss-Allegro, das schließlich, wie zu Beginn, in eine elegisch strömende Lamentolinie mündete, über zarten Streichern und fragendem Klarinettenruf. Eine faszinierende Begegnung!
Und fesselnd auch die rhythmisierten Meditationen in Orawa, 1986 von Wojciech Kilar für Streicher komponiert. Obwohl Kilar weitgehend unbekannt geblieben ist, haben doch viele seine Musik in Filmhits wie Roman Polańskis Der Pianist oder Bram Stoker’s Dracula von Francis Ford Coppola gehört. Inspirationen von Landschaften im südlichen Polen, Motivfetzen wie in Minimal Music: am ersten Pult (herrliche Sogwirkung aufbauend Ilian Garnetz) begann die Musik zu pulsieren, erfasste nach und nach die anderen Gruppen, trumpfte rhythmisch immer mehr auf. Wie in einem Filmschnitt intonierte das Orchester dann einen strengen rustikalen Tanz, den Urbański mit fokussierter Energie immer mehr anheizte; nach kurzem Verschnaufen in süßem Cellotraum ein aufbrausendes Schluss-Crescendo, hinter das die Orchestermusiker ein energisches „Hey“ als Ausrufezeichen setzten!
Mit dem herb-realistischen Klavieroriginal der Bilder einer Ausstellung von 1874 hatte Modest Mussorgsky keinen Erfolg. Der stellte sich erst ein, als Maurice Ravel 1922 in raffiniert orchestraler Klangfarbenkunst die Profilierung von Charakteren und Szenen schärfte. Auch hier war Urbański wieder in seinem Element, hypnotisierte – wie schon bei Orawa ohne Partitur – die Bamberger Musiker mit der ganzen Palette zwischen Fingerakzenten, Armschwüngen, tänzelnder Körpersprache und stampfenden Fußimpulsen zu einer dämonisch schillernden musikalischen Übersetzung der Gemälde des russischen Malers Viktor Hartmann. Dabei schenkte er den kratzbürstigen Feinheiten der Partitur gleichermaßen Beachtung wie dem feierlichen Pomp, setzte insgesamt das Miteinander aller Register des Orchesters atemberaubend ins Bild. Ob Altsaxophon oder Celesta, Tuba oder Triangel: jede Gruppe trat mit faszinierender Plastizität aus dem Gesamtklang hervor und mischte sich doch gleichzeitig mit den anderen zur atmosphärisch dichten Folge klingender Kunstwerke.