Spürten Raphaël Pichon und seine Ensembles Pygmalion im ersten phänomenalen Durchgang ihrer dreiteiligen Projektreihe Die Wege Bachs vornehmlich dem sippenhaften Erbe Johann Sebastian Bachs nach, gingen sie im zweiten Konzert zu den „Meistern – die wiedervereinigten Stile“. Und damit zu den Übervätern der Musikgeschichte, die jeden Musiker danach prägten und somit auch Bach im näheren Umfeld, in stile antico und Generalbass sowie in seiner Bibliothek. Gemeint sind natürlich auf stilistisch und tatsächlich italienischer Seite Claudio Monteverdi als „Erfindergigant“ der Seconda Pratica, Giacomo Carissimi, Heinrich Schütz als „Begründer“ der deutschen, mehrchörigen Barockmusik, dessen Schüler Christoph Bernhard sowie auf französischem Formpfad und Gebiet Jean-Baptiste Lully. Dazu in gemischtem Bunde Michael Praetorius, Biagio Marini, etwas auf die kommende „Lübecker“ Ausgabe vorausschauender Nicolaus Bruhns, die Hamburger beziehungsweise Lüneburger Vorbilder und persönlich bekannten Johann Adam Reincken und Georg Böhm sowie Johann Pachelbel, dem Orgellehrer Bachs ältesten Bruders.
Dafür selbst seinen Platz auf der Bühne der Laeiszhalle einnehmen konnte Pichon allerdings nicht, da er kurzfristig krankheitsbedingt ausfiel. Das erste Mal in seiner über sechszehnjährigen Zeit mit Pygmalion. Glück im Unglück für Veranstalter und Publikum, stellte das Konzert jedoch das letzte auf Pygmalions Tour dar, so dass Sänger und Instrumentalisten durch Proben und vorangegangene Aufführungen eingespielt waren, damit Konzertmeisterin Sophie Gent die Leitung – wie zu barocken Zeiten üblich – von ihrem Platz aus übernehmen konnte. Bis auf wirklich minimale Koordinationsunebenheiten an vereinzelten Stellen, an denen ich mich dank Konzertrettung und erneut bravourösen Gesamteindrucks überhaupt nicht aufhängen möchte, präsentierte sie daher die stilistische, artikulatorische Flexibilität sowie bestechende Agilität und Affektgestaltung Pygmalions in diesem Programm. Eines, das Pichon auch wieder mit bachtypischer Zahlenspielerei (zwölf Stücke im ersten Teil, drei im zweiten) und perfekt abgestimmter Dramaturgie inhaltlich und farblich anknüpfender Art versehen hatte.
So begann es mit Lullys Ouverture und Plainte italienne aus Psyché, in der sich französische Sehnigkeit und Feinheit mit Expressivität verbinden konnten, instrumental, wie gewohnt, höchst klar durch die zwei Violinen, Gamben, Basse de violon, Kontrabass und Blockflöte (beziehungsweise zwei Altblockflöten in der Plainte) sowie vollem Continuo aus Orgel, Cembalo, Erzlaute, Barockharfe und Fagott, vokal mittels Céline Scheens filigranen, leisen Sopranorgans mit dunklerem Schimmer; außerdem durch Zachary Wilders typisch kräftigere italienische Ausdrücklichkeit und Tomáš Králs deklamatorische, transparent-saubere Resolutheit, die Scheen dann zu dynamisch gesteigerterem Auftreten veranlasste. Musikalisch bestimmendes Layout von Sinfonia, Soli (also Favoritchor) und Chor brachte danach Stilgeber Bernhard mit seiner bekanntesten Motette Herr, nun lässet du deinen Diener ein, in der Maïlys de Villoutreys, Perrine Devillers, William Shelton, Wilder, Král und Choeur de Pygmalion mit berührender Andacht und Tröstlichkeit in diktions- und entfaltungsprächtigem Angang beeindruckten.
Davon beflügelt und mit dem unweigerlich anziehenden Effekt behaftet, sich in den spirituellen und rhythmischen Schwung fallen zu lassen, gestaltete Pygmalion drei erlösend-feschfunkelnde Tanzsätze aus Praetorius' Terpischore (mit hinzukommenden Zinken), Pachelbels freudig vollgetroffenenes Jauchzet dem Herrn, alle Welt und ein theatralisch unvergessliches, warmes und stilkontrolliertes Beatus vir Monteverdis. Natürlich wurde der Empfindung im Folgenden weiter durch die zuversichtliche Geborgenheit und Behütung entsprochen, als Streicherconsort, Generalbass und Altblockflöten ansteckend-intensive, überwältigende Intonationslagen bereiteten für Reinckens Hortus musicus-Sarabande, Bruhns' Ich liege und schlafe, Böhms hervorragende Kantatenauszüge von Mein Freund ist mein, Schütz' O Jesu, nomen dulce mit stets übersphärisch-unschlagbarem Altus Sheltons und Lullys Traumwandlungen aus Persée und Armide, in denen Wilder seine sehnsüchtigen, timbrierten Stärken bestens auszuspielen vermochte.
Nach Marinis versunkener Passacaglio aus Op.22 fesselte Pygmalions bildliche, kammeroperal-dramatische Interpretation Carissimis Historia di Jephte mit Králs fürchtigem Bariton, Scheens passioniertem Lamento, unter anderem René Ramos Premiers Erzähler-Einsätzen und der zerreißenden Beschlagenheit des Chors. Ohne Wut, mit demütiger Inbrunst, vergewissernd-sinnlicher Überzeugung erschloss Pygmalion – mit wunderbar klar-direkten Soli von de Villoutreys und dem Terzett Sheltons, Wilders und Králs – schließlich Bachs Kantate Nach dir, Herr, verlanget mich in umgreifendem Trost.