Christian Thielemann hat sich längst zu einem Spezialisten für die Musik des deutschsprachigen Kulturraums zwischen 1850 und 1930 entwickelt. Und das stellte er in seinem jüngsten Konzert mit den Berliner Philharmonikern, die er seit einem Vierteljahrhundert regelmäßig dirigiert, einmal mehr unter Beweis.
Der Abend begann mit dem Parsifal-Vorspiel, in dem die „Kunst des feinsten Übergangs“ einer Reihung der Motive gewichen ist, die im wahrsten Sinne des Wortes lapidar ist – und auch so dargeboten wurde. Thielemann wählte ein zügiges Tempo, um in den Streichern das Liebesmahlmotiv aufsteigen zu lassen. Im angeschlossenen Glaubensmotiv konnten die Blechbläser da weitermachen, wo sie vergangene Woche unter Nelsons Bruckners Siebente Symphonie zelebrierten. Dieser Klang ist nicht zu beschreiben, den muss man gehört haben. Den Karfreitagszauber nahmen Dirigent und Orchester noch lichter und leichter als das Vorspiel. So konnten der Oboist Albrecht Mayer und der Klarinettist Wenzel Fuchs in großer Freiheit das aus dem Liebesmahlmotiv abgeleitete Karfreitagsmotiv über dem Streicherklang schweben lassen.
Anschließend sang Camilla Nylund die Vier letzten Lieder von Richard Strauss. Dass Thielemann diese Lieder aus einer Wagner-Perspektive dirigierte, war ein Gewinn. Dennoch wurde die Aufführung nicht zu einer verkappten Oper. Wie eine Ballade sang Nylund den Frühling und lehnte sich dreimal mit einer Koloratur am jeweiligen Strophenende wie in eine vom Orchester ausgebreitete Decke zurück. Im September „schauert(e) still“ der Sommer „seinem Ende entgegen“, und als dieser „Sommer lächelt(e)“, schattierte Nylund ihren Ton wunderbar dunkel ab. Von solchen Feinheiten gab es reichlich zu hören in ihrer Darbietung. Im Lied Beim Schlafengehen schienen Thielemann und das Orchester auch zeigen zu wollen, was für begnadete Sänger im Orchester spielen. Daishin Kashimoto trug die Melodie anrührend vor, die Nylund am Ende des Liedes in anderen Farben leuchten ließ. Im Abendrot entfaltete sich ein warm geröteter Orchesterklang, der einen Ton altersmilder Verlorenheit zu Gehör brachte. In den Nachspieltakten wurden Anklänge an das „Urvergessen“ aus dem dritten Tristan-Akt vernehmbar, die mir bisher noch nicht aufgefallen waren. Und wenn die letzte Frage „– ist dies etwa der Tod?“ auf dem Ces-Dur-Quartsextakkord angekommen war, aber unbeantwortet blieb, dann erhob sich der Schönklang in ein großes Abschiedswort des in seinem Spätwerk so oft unverstanden gebliebenen alten Meisters.
Nach der Pause erklangen Hans Pfitzners drei Orchestervorspiele aus der Oper Palestrina, die Thielemann schon bei seinem Debütkonzert mit den Philharmonikern vor über 25 Jahren dirigiert hat. Wer kann die Verbindung der alten klassischen Vokalpolyphonie mit den Errungenschaften der Instrumentationskunst der „Spätromantik“ des Vorspiels zum ersten Akt bezaubernder zu Gehör bringen als Thielemann? Im Vorspiel zum zweiten Akt fielen die Würdenträger des Konzils von Trient einander mit wütenden Bläserattacken ins Wort und gingen „mit Wucht und Wildheit“ dem anderen an die Gurgel. Im dritten Vorspiel, voller resignativer Schwermut, bezauberte einmal mehr Klarinettist Wenzel Fuchs, als er Ighinos Kantilene vortrug.
Ganz anders geriet im Klang Bachs Präludium und Fuge Es-Dur BWV 552 in Schönbergs Orchestrierung. Es ging Schönberg nicht allein darum, den Gegensatz des horizontalen Kontrapunkts und der vertikalen Harmonik auszugleichen, sondern darum, im großen Orchester die strukturellen Verwandtschaften der Themen herauszustellen. Das Präludium komponierte er als Introduktion, in dem das Fugenthema vorbereitet wurde. Das wurde auch von Thielemann sorgfältig umgesetzt, auch wenn die Vorahnungen des Themas in der Harfe im Riesenorchester untergehen mussten. Schönberg hatte mit Varianten der Phrasierung einer Abnutzung des dritten Themas vorgebeugt, was das Orchester beherzigte dies mit großer Sorgfalt und Hingabe, so dass am Ende jene Steigerung überzeugend gelang, auf die diese Fuge hin angelegt ist.