Die drei Werke, die Andris Nelsons in seinem Konzert am 11. Mai mit dem Gewandhausorchester Leipzig auf das Programm setzte, gelten je für sich als „Inbegriff der Romantik“. 

Eröffnet wurde der Abend mit Wagners Vorspiel zu Lohengrin, das Thomas Mann den Gipfel der Romantik nannte und von der „blau-silbernen Schönheit“ dieser Musik schwärmte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Dirigent und sein zukünftiges Orchester sich von dieser Formulierung inspirieren ließen, als sie zu Beginn in den achtfach geteilten Geigen durch Flageolett in höchsten Lagen eine geradezu sphärische Atmosphäre erzeugten. Irisierende Klänge, die im Wesentlichen ein einziges Motiv variieren, führen allmählich auf einen Höhepunkt, auf dem der heilige Gral erscheint. Man darf den Aufführenden dankbar sein, dass sie nicht der Versuchung erlagen, das Orchester dort dröhnen zu lassen, sondern dass sie ein edles Fortissimo zu intonieren wussten, von dem aus die Musik dorthin zurückgeht, woher sie ihren Anfang genommen hat.

Schuberts Unvollendete ist ein frühes Paradigma für eine romantische Symphonie. Nie zuvor war ein Werk dieser Gattung so dunkel-raunend in den tiefen Streichern eröffnet worden. Diese Aufführung fasste diesen Beginn als offene Frage auf, der ein Sonatensatz ausweichend antwortet, weil seine Entwicklung immer wieder gestört wird. So etwa, wenn in das singende Seitenthema das Orchester nach einer Generalpause wie von außen zerstörerisch hereinbricht. Auch hier war – wie im Lohengrin-Vorspiel – der edle Ton zu rühmen, der hier aber jener Gefasstheit Ausdruck gab, um die Schubert gerungen hat. Den zweiten Satz nahmen die Musiker weniger als Kontrast denn als Fortsetzung des ersten Satzes. War der Kopfsatz „von außen gestört“, so musikalisieren die Modulationen des zweiten eine innere Auflösung wie sie im Traum geschieht. Während im Allegro größte Sorgfalt auf den Anfang gelegt wurde, so ging es im Andante vor allem darum, das Versinken ins Niemandsland am Ende hörbar zu machen. Diese Symphonie ist unvollendet-vollendet; denn diesem Satz lässt sich nichts mehr anschließen.

Die im zweiten Teil erklingende Vierte Symphonie Bruckners trägt das Wort „Romantisch“ sogar im Titel. Sie beginnt „vor der Zeit“ und setzt, losgelöst von jeder metrischen Gliederung, an der Grenze zur Lautlosigkeit im Tremolo auf dem Grundton Es ein. In diesen Klanggrund intoniert das Horn das für die gesamte Symphonie grundlegende Motiv. Den zweiten Satz fasst Nelsons ganz traditionell als Prozession auf. Und wenn es an diesem Abend überhaupt etwas zu bemängeln gab, dann vielleicht, dass hier ein wenig über die Feinheiten der Partitur hinweg, zumindest nicht so sorgfältig musiziert wurde wie in allen anderen Teilen des Konzerts. Das Jagd-Scherzo nimmt Nelsons bewusst unproblematisch. Im Finale erklingt dann eine Musik, die bis auf den heutigen Tag erschüttert, vor allem, wenn sie von einem mutigen Dirigenten wie Nelsons so aufgeführt wird. Wenn er selbst sagt, dass Bruckner die existenziellen Fragen und Zweifel beschäftigten, die uns alle bewegen, und uns seine Musik darum heute so viel zu sagen habe, dann begründet er dies damit, dass sich sein „Glaube und seine innere Stärke überall in seiner Musik“ widerspiegelten. Das ist leitend für seine Auffassung des Finalsatzes, der im Unterschied zu den anderen drei Sätzen aus der Form ausbricht und sie schließlich überwindet. 

Geheimnisvoll lässt er die dem Finale vorangestellte Introduktion auf die Grundtonart zusteuern. Doch Es-Dur erklingt in dem kolossalen und so überwältigend vom Orchester auch vorgetragenen Hauptthema erst an seinem Ende, wenn das Hornmotiv vom Anfang der Symphonie aufstrahlt. Nelsons weiß diesen Durchbruch als ein nur vorläufiges Ziel, als Vision zu gestalten. Den übrigen Sonatensatz lässt er aus den Fugen geraten so wie Bruckner ihn komponierte. Die Themen erklingen wie aneinander geheftet und fügen sich nicht zu einem Ganzen wie im Kopfsatz. Doch das, was die Zeitgenossen als Bruckners Unfähigkeit zur Gestaltung diskreditierten, das gestaltete Nelsons als Ausdruck existenzieller Fragen und Zweifel: Die Durchführung führt auf eine Reprise, in der das Hauptthema zwar nochmals gesteigert hervortritt, aber von Nelsons und dem ihm wunderbar folgenden Orchester mit einem Fragezeichen versehen wurde. Wenn das Seitenthema in einer fremden Tonart erklingt, wird jedem im Saal klar, dass Vermittlung nicht gelungen und Ordnung auch nicht hergestellt wurde, was doch die Aufgabe einer jeden Reprise ist. Das in sich zerfallene Hauptthema führt in eine Coda, die Transformation im Sinne von Übergang bedeutet. Versöhnung gelingt Bruckner nicht in einer Synthese der thematischen Gestalten, sondern in ihrer Auflösung. Die Akkorde verlieren mehr und mehr den Bezug zum bisher Erklungenen und werfen ihr Licht auf die Vision einer bisher noch nicht gehörten Musik. Erst in den letzten Takten lässt Bruckner das Hornmotiv vom Anfang sich wie Phönix aus der Asche erheben.

Wenn Jakob Böhme einmal sagte: „Die Welt ist eine Geburt aus dem Ewigen. Ihre Wurzel ist die ewige Natur, aber das Geborene ist eine Zerbrechung und muß wieder ins ewige Wesen gehen“, dann hat man wohl den ideengeschichtlichen Anknüpfungspunkt gefunden, mit dem sich Bruckners Symphonie hören und diese Aufführung als hochgelungen würdigen lässt. Überzeugend war dieser Schluss, weil er nicht als plakativer Triumph gestaltet wurde, sondern als Ausblick auf eine Zeit, in der die unsrige überwunden sein wird. So gelingt es Nelsons, diese in ihrer Monumentalität keinesfalls aktuelle Musik in unsere Zeit zu versetzen.

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