Trotz seiner fast neunzig Jahre war Hans van Manen während der Premiere des ihm gewidmeten Programms hinter den Kulissen des Dutch National Ballets präsent und kümmerte sich um die Tänzer. Von daher war es wohl von ihm sanktioniert, dass die Musik zum ersten Stück live von der Pianistin Olga Khoziainova gespielt wurde. Denn eigentlich hatte van Manen gefordert, dass das Adagio aus Beethovens Hammerklaviersonate, das dem Stück den Titel gab, nur aus dem Lautsprecher erklingen soll, und zwar in der Interpretation von Christoph Eschenbach, denn dieser Aufnahme verdankt das Stück überhaupt seine Entstehung. Eschenbach spielte dieses Adagio langsamer als die meisten anderen Pianisten (nur Grigory Sokolov ist noch langsamer), und genau das ist das Thema von van Manens Choreographie: Wie langsam kann etwas sein, ohne zu erstarren oder die Spannung zu verlieren.
Zu Beginn meint man, es geschehe in diesem Ballett fast nichts außer Musik. Jeder Schritt zeichnet die anfänglichen Noten nach, minutiös, präzis – und damit ist dieses erste Stück bereits eine Einführung in das, was van Manens Tanzkunst auszeichnet: ihre ungeheure Musikalität. Und auch das zweite Charakteristikum wurde bereits in den ersten Minuten deutlich: die Konzentration auf das Wesentliche. Bei diesem Choreographen ist kein Schritt, keine Bewegung überflüssig, und damit ist jede Bewegung hochgradig bedeutsam. Selbst wenn die Tänzer nur zu schreiten scheinen, und sie tun das oft bei van Manen, ist jeder Schritt mit Bedeutung aufgeladen, ist voller Spannung. Und noch eines zeigte dieses erste Stück: van Manen ist ein Meister der Variation. Die drei Tanzpaare des Stückes scheinen auf den ersten Blick oft dasselbe zu tanzen, und doch hat jedes Paar eine ganz eigene Ausdrucksstärke.
Wie sehr van Manen Gleiches mit unterschiedlicher Bedeutung aufladen kann, zeigt eine winzige Bewegung in diesem Programm. Gegen Ende seines Stücks Déjà vu aus dem Jahr 1995 (Adagio Hammerklavier entstand 1973 und ist das älteste Stück dieses Programms) stützen sich die beiden Tänzer gegenseitig mit den Schultern ab, als wären sie erschöpft. Dieselbe Bewegung findet sich auch in dem Stück Two Pieces for HET, hier aber ist sie Ausdruck tiefster inniger Verbundenheit der beiden Tänzer.
Wie sehr van Manen sich dieses Phänomens der leichten Variation bewusst ist, zeigt er in dem jüngsten Stück des Programms, in dem der Begriff titelgebend ist: Variations für two couples von 2012. Die Paare müssen höchst unterschiedliche Ausdrucksformen präsentieren – mal virtuos artistisch, mal lyrisch introvertiert. Wieder wirken die Paare auf den ersten Blick identisch, sind aber in vielen Details höchst unterschiedlich. Van Manen ließ sich hier wie so oft von den Eigenarten der vier Tänzer leiten, für die er dieses Stück choreographierte, und auch hier waren höchst unterschiedliche Körpersprachen am Werk: Jessica Xuan ist die eher ätherische Tänzerin, die sich von ihrem Partner wie eine Feder heben und tragen lässt, Anna Tsygankova ist größer als ihre Kollegin mit eher kraftvollen Bewegungen. Entsprechend variiert das Ausdrucksspektrum der beiden Paare.
Zurück zur Hammerklaviersonate. Was wie eine rein formale Choreographie wirkt, ist in Wirklichkeit voller menschlicher Inhalte. Zwischen den Tänzern der drei Paare herrschen ganz unterschiedliche Beziehungen vor. Da geht es mal um Konfrontation, mal um Hingabe, um Aufbegehren und um Nachgeben. So abstrakt vieles bei van Manen wirken mag, auch das zeigt das Programm, so menschlich ist seine Aussage. Immer wieder geht es bei ihm um die Beziehung von Menschen zueinander. Daher sind seine oft sehr kurzen Stücke für zwei Tänzer auch keine Pas de deux, sondern tief empfundene menschliche Dramen. So stehen sich Anna Ol und James Stout in Trois gnossiennes zur Musik von Erik Satie anfangs sehr kritisch gegenüber, obwohl sie erstaunlich oft als Paar mit engem Körperkontakt tanzen, entwickeln sich aber innerhalb dieser stark zehn Minuten zu einem Paar in inniger Zusammengehörigkeit. Es ist faszinierend, wie nahezu unmerklich diese beiden Tänzer diesen Übergang zu so konträren Einstellungen gestalten.
Solche zwischenmenschlichen Dramen können sehr komisch sein. Van Manen dürfte unter den Choreographen der letzten sechzig Jahre einer der witzigsten sein. So scheint sich der Tänzer in Sarcasmen von 1981 alsbald zu fragen, was für tolle Sprünge und komplexe Schrittfolgen er denn noch ausführen muss, um die gelangweilte Dame aus ihrer hochmütigen Haltung ihm gegenüber herauszulocken, und Jozef Varga ist ein virtuoser Tänzer. Ihm steht Floor Eimers allerdings in nichts nach, wenn sie in einer zweiten Runde nun ihrerseits eine tänzerisch virtuose Schau abzieht. In diesem Stück ist der Pianist (Michael Mouratch), um dessen Flügel dieser Kampf zweier Menschen stattfindet, Teil der Choreographie. Am Ende knallt er ob des tänzerischen Balzgebarens der beiden wütend den Tastendeckel zu.
So sehr man auch meint, van Manens Tanzstil zu kennen, so überrascht er doch stets mit Neuem. Daher schuf er, als man ihm Wiederholung vorwarf, ein witziges Stück mit dem Titel Déjà vu, in dem er sich in ständig neuen Wendungen nur so ergeht und doch van Manen bleibt, der, das zeigt dieses Programm, sicher einer der größten Choreographen überhaupt ist.
Die Vorstellung wurde vom Livestream des Dutch National Ballets rezensiert.