Ursprünglich sollte Chefdirigent Alan Gilbert sein NDR Elbphilharmonieorchester im Rahmen des Minifestivals Strawinsky in Hamburg dirigieren, aber das Opern-Oratorium Oedipus Rex war wohl zu groß besetzt und mit Chor selbst in der Elbphilharmonie nicht mit ausreichendem Abstand auf die Bühne zu bekommen. Das Ersatzprogramm hatte nun auch einen anderen Dirigenten, den das liebevoll zusammengestellte online abrufbare Programmheft leider zu erwähnen vergessen hatte. Thomas Adès ist, welch ein Zufall, wie Strawinsky selbst ein dirigierender Komponist. Adès ist in diesen Wochen 50 geworden und hatte aus nämlichem Anlass mit dem LSO ein Konzert dirigiert, mit dem Pianisten Kirill Gerstein als Solist. Beide Künstler waren nun auch in Hamburg zusammen auf der Bühne.
Fast auf den Tag genau vor 50 Jahren ist Igor Strawinsky im Alter von 88 Jahren gestorben. In der Uraufführung seines kontrapunktischen Klavierkonzerts mit Bläsern, Kontrabässen und Pauken hatte er 1924 noch selbst den Solopart gespielt. Gerstein ist heute schon ein mit allen Wassern gewaschener Klavierlöwe, der Strawinskys raffinierte Rhythmik aufgefrischt durch die in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufkommende Jazztechnik virtuos und elegant beherrscht. Den solistischen Beginn des Largos spielte er stilgetreu unsentimental und gleichzeitig träumerisch mit lyrischer Ausdruckskraft. In den schnellen Ecksätzen sah sich das NDR Orchester durch die erzwungene weiträumige Aufstellung mit einer schier unlösbare Aufgabe konfrontiert. Die einzelnen Musiker konnten dem virtuos dirigierenden Adès zwar folgen, vermissten aber für die notwendige Feinabstimmung die gewohnte physische Nähe der Kollegen. Die dadurch entstehenden kleinen rhythmischen Ungenauigkeiten machten spürbar auch dem Solisten Gerstein zu schaffen. Es war trotzdem bemerkenswert, wie sich dieses Ensemble hochkarätiger Musikprofis unter diesen erschwerten Bedingungen durch die höllisch schwere Partitur schlug.
In der Umbaupause wurde das geduldig vor dem Schirm ausharrende Publikum zu einem unangekündigten, sehr kurzweiligen Dokumentarfilm über eine Filmproduktion aus dem Jahr 1965 von Apollon Musagète eingeladen. Die alten Filmaufnahmen machten nicht nur die Dirigentenpersönlichkeit Strawinskys wieder lebendig, sondern erzählten auch das Libretto dieses Balletts anschaulich nach. Adès tanzte sich danach mühelos durch diese Komposition für Streichorchester. Dank seiner schlanken Gestik und gemäßigten Tempi ermöglichte er es dem klanglich ausgewogenem Streichorchester ein ums andere Mal regelrecht zu singen. Strawinsky sagte einmal über diese „bis zur Süße vereinfachte Streicherpartitur“ (Stuckenschmidt): „Es lockte mich, eine Musik zu komponieren, bei der das melodische Prinzip im Mittelpunkt steht. Welche Freude, sich wieder dem vielstimmigen Wohllaut der Saiten hinzugeben und aus ihm das polyphone Gewebe zu wirken.” Ein wenig mehr dynamische Differenzierung hätten dem halbstündigen Werk vielleicht noch mehr Glanz geben können.
Als Rausschmeißer erwies sich die Orchestersuite von Strawinskys Frühwerk Der Feuervogel wieder einmal unschlagbar. Die Suite von Strawinskys erstem Ballett, mit dem er seinen internationalen Durchbruch errang, hat Strawinsky selbst hunderte Male dirigiert. In der Elbphilharmonie waren die Blechbläser auf den hinter der Bühne liegenden Zuschauerrängen postiert, und genau diese klanggewaltigen Trompeten und Posaunen läuteten im Höllentanz (Danse infernale) den majestätischen Abgesang dieses Konzertabends ein. In dem an vielen musikalischen Höhepunkten reichen Abend ließ das wiederholt klagende Fagottsolo alles Vorherige vergessen. In der fantasievollen Atmosphäre dieses russischen Volksmärchens war das Leid auch unserer gegenwärtigen Zeit bildschön und ergreifend zusammengefasst.
Die Vorstellung wurde vom Livestream der Elbphilharmonie rezensiert.