Alexander Puschkin gilt als der russische Nationaldichter, dessen Werke von großen Komponisten wie Tschaikowsky, Dvořák, Mussorgsky, Rimski-Korsakow, Rachmaninow, Prokofjew, Strawinsky vertont wurden. Seine Erzählung Der Schneesturm schrieb Puschkin im Jahre 1831, dem Jahr seiner Hochzeit, die letztendlich zu seinem frühen Tod führen sollte, da er sich wegen seiner Frau 1837 duellierte. Er hatte diese Frau schon 1830 kennen und lieben gelernt. Wegen einer in Moskau kurz darauf herrschenden Choleraepidemie mussten die Hochzeitsfeierlichkeiten jedoch fast ein Jahr aufgeschoben werden. Diese (uns derzeit wieder leidvoll bekannte) Periode des Warten wurde für Puschkin zu seiner größten Schaffensperiode.
Der russische Choreograph Andrey Kaydanovskiy war zunächst Tänzer beim Wiener Staatsballett bevor er 2009 neben seiner Karriere als Tänzer auch zu choreographieren begann. Beim Bayerischen Staatsballett wurde nun sein Ballett in zwei Akten nach Der Schneesturm auf Musik von Lorenz Dangel uraufgeführt.
Kaydanovskiy ist ein Erzähltalent mit viel Gefühl für Dramatik, aber auch für Humor. Auf der nahezu leeren Bühne von Karoline Hogl ist das Anwesen des Gutsbesitzers Gavril Gavrilovitch nur mit Neonröhren angedeutet. Seine Familie sitzt steif wie auf einem Porträtfoto und starrt ins Publikum. Die Tochter Marja (Ksenia Ryzhkova) bemüht sich eine große Schneekugel ruhig in ihren Händen zu halten. Sie ist dieser Aufgabe aber kaum gewachsen. Ryzhkova verfügt über eine phänomenale Mimik. Sie spielte die gelangweilte reiche Göre ebenso überzeugend, wie den schüchtern verliebten Backfisch. Im Pas de deux mit ihrer großen Liebe Vladimir (Jonah Cook) tanzt sie die erste Liebe mit all ihrer unbegreiflichen Fülle wundervoll jugendlich und naiv.
Während in Puschkins Text die wiederholten Unterbrechungen und Perspektivwechsel für Spannung sorgen, lässt Kaydanovskiy den Schneesturm tanzen! Sechs vollständig in weiß gekleidete Tänzer (Kostüme: Arthur Arbesser) verstricken Vladimir unermüdlich in die weiße Flockenpracht, so dass er seinen Weg zur heimlich anberaumten Hochzeit mit Marja nicht finden kann. Komponist Lorenz Dangel hat einige Preise für seine Filmmusiken gewonnen und er erweist sich nicht nur in diesem Schneesturm als ein Meister des Zitierens und des Sounddesigns. Vladimir tanzt seine Enttäuschung über die missglückte Hochzeit (die verhängnisvolle Verwechslung in der Kirche wird erst im zweiten Akt erklärt) mehr martialisch als leidenschaftlich bis er sich den Heerestrommeln folgend zu den Waffen rufen lässt.
Im folgenden zweiten Akt hat das Ensemble des Bayerischen Staatsballetts viele energiegeladen festliche Auftritte. Aber erst mit Osiel Gouneo als Belkin bekommt die Vorstellung Glanz. Gouneo ist ein sich virtuos bewegender Komiker. Der Freund des Kriegsheimkehrers Burmin (Jinhao Zhang) tanzt akrobatisch und mit immer verschmitztem Lächeln, dass es eine liebe Lust ist. Nicht nur seine Technik scheint mühelos; wenn er tanzt, dann hält er sein Publikum in Atem. Ein toller Regieeinfall ist es, ihn mit der Ausbildung eines bei Veteranen häufigen posttraumatischen Stresssyndrom ganz aktuell in unsere Zeit zu katapultieren.
Die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Burmin und Marja ruft Erinnerungen wach an den ersten Akt und das vor allem, weil Ryzhkova ihre neue Liebe wieder ebenso überzeugend und aufrichtig auf die Bühne bringt. Die Musik von Dangel bekommt authentische Überzeugungskraft in der Aufdeckung des wahren Ablaufs in der Schneesturmnacht, als Burmin aus Versehen für Vladimir gehalten wird und mit der halb ohnmächtigen Marja gegen seinen Willen verheiratet wird. Mit verzerrten Stimmen und allerlei elektronischen Effekten wird die unwirklich gespenstische Stimmung jener Nacht perfekt nachvollziehbar.
Das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Gavin Sutherland begleitete subtil und immer wieder auch vor allem in den Bläsern imponierend kräftig. Eine wichtige Rolle fällt in Dangels Partitur dem Bandoneon (Michael Dolak) zu. Dank des realistischen Sounddesigns (Felix Trawöger und Aleksandra Landsmann zusammen mit dem Komponisten) ist diese moderne Uraufführung zu jeder Zeit perfekt aus dem Graben und den Lautsprechern musikalisch getragen.
Kaydanovskiys Choreographie endet nicht mit einem Happy End wie bei Puschkin, sondern grimmiger: mit einem neuen Schneesturm. Das Schicksal kann immer und überall zuschlagen und wir sind ihm als Menschen hilflos ausgeliefert.
Die Vorstellung wurde vom Stream des Bayerischen Staatsballetts rezensiert.