Was macht ein Mann, wenn seine Schwiegermutter zu Besuch kommt? Er hält sich am besten zurück – so jedenfalls der tänzerische Vorschlag von Lukáš Timulak in seinem 2011 für das Nederlands Dans Theater kreierte Ballett Masculine/Feminine, das nun am Staatsballet Hannover zu sehen ist. So wagt der Tänzer in dieser Szene zwar ein paar Worte, sprich tänzerische Einwürfe in das endlos scheinende tänzerische Geplapper zwischen seiner Frau und deren Mutter, sieht aber bald die Unmöglichkeit ein, in diese verwandtschaftliche und emotionale Zweierphalanx einzudringen, zu dominant sind Mutter mit Pelzjäckchen und Tochter in schlichtem Alltagskleid von Anfang an aufgetreten.
Timulak hat ausgehend von dem Buch Men Are From Mars, Women Are From Venus von John Gray die Unterschiedlichkeiten des Weiblichen und des Männlichen in knappen Szenen choreographiert. Da erweisen sich die Frauen in ständiger Aktion, die auch in Aktionismus ausarten kann, herausgefordert von den kleinen Aufgaben des Haushaltsalltags, während die Männer meinen, sich großen kämpferischen Herausforderungen stellen zu müssen, aber auch mal einfach einen Stuhl greifen und sich vor den Fernsehapparat setzen. Das ist voller Stereotypen und soll es auch sein, aberwitzig und temporeich auf die Bühne gebracht, belässt das Stück allerdings auch im Bereich rein spielerischer Satire und wirkt ein wenig gestrig. Das Fazit: Die Suche nach einer glücklichen Koexistenz dieser beiden unvereinbaren Spezies gehe weiter, wie ein Sprecher am Ende verkündet, dessen übrige Einwürfe allerdings leider – zumindest im Streaming, über den das Stück momentan ausschließlich zugänglich ist – nicht immer gut zu verstehen waren. Timulak gelingt es in einer Gratwanderung, alltäglich anmutende Bewegungsmuster ständig in reinen Tanz umkippen zu lassen. Der Zuschauer wähnt sich im normalen Alltagsfilms und ist doch stets auch mit der modernen Tanzbühne konfrontiert.
Der Choreograph Juliano Nunes beschreitet choreographisch den umgekehrten Weg. Sein neues Stück Moonlight, das jetzt am Staatsballett Hannover uraufgeführt wurde, besteht aus rein abstrakten Bewegungen der Tänzer. Es sind hochemotionale Ausdrucksformen, mit denen die Protagonisten ihr Inneres zum Ausdruck bringen: Da versuchen die TänzerInnen, mit den Armen und Händen mal die Welt zu sich heranzuziehen, mal auch sie von sich fernzuhalten, Sehnsüchte klingen an nach einem idyllischen Leben, das jedoch immer wieder durch schmerzliche Körperverzerrungen als unmöglich dargestellt wird. Aber trotz dieser Abstraktheit hat man den Eindruck, Menschen in ihrer Alltagswelt zu begegnen – nicht der witzig ironisch charakterisierten wie bei Timulak, eher einer allgemeinen menschlichen Existenz, aber doch einer realen.
Als Musik wählte er hierfür den dritten Satz von Beethovens Hammerklaviersonate – jener unendlich langen, unendlich komplexen und sich jeder Festlegung entziehenden Musik. Für die Tanzbühne fand Nunes in jeder Phase seiner Arbeit die entsprechenden Ausdrucksformen. Selten ist eine Choreographie derart Note für Note mit der Musik verschmolzen, ohne sie jedoch einfach nur zu verdoppeln. Stets findet Nunes ein tänzerisches Äquivalent für das musikalische Geschehen, jede Modulation findet ihre Entsprechung im Stimmungswechsel. Es ist ein Stück gewissermaßen im ständigen Wechsel zwischen tänzerischem Dur und Moll.
Es ist zugleich eine choreographische Untersuchung über das Miteinander von Individuum und Gruppe, denn fast durchweg erheben sich einzelne Tänzer zu eingestreuten Soli, während die übrigen Tänzer regungslos verharren, mal in einer Bewegung erstarrt, mal erschlafft am Boden liegend. Jeder kann so einmal solistisch hervortreten, jeder Mensch ist ein Individuum und doch zugleich auch stets Mitglied eines Miteinanders mit den anderen – eine hochphilosophische Choreographie zu einem Koloss von Musik.
Bei Jiří Kyliáns Double You gibt es nur noch das Individuum, einen Menschen in existentieller Notlage. Kylián schuf das knapp viertelstündige Werk 1994 für den Tänzer Gary Chryst, der im Alter von vierzig mit dem Ende seiner Karriere und privatem Unglück konfrontiert war. Darauf spielt die Anfangssequenz an: Der Tänzer, in diesem Fall Tommy Rous, steht mit dem Rücken zum Publikum. Regungslos mit ausgestreckten Armen versucht er, den roten Bühnenvorhang, der sich zu schließen droht, aufzuhalten, und das gelingt ihm auch; noch einmal gehört die Bühne ihm, doch die Vorboten des Karriereendes sind unaufhaltsam vorhanden, zwei riesige, ständig nach rechts und links ausschlagende Pendel.
Was nun folgt, in völliger Stille, ist der verzweifelte Versuch eines Körpers, mit sich zurecht zu kommen, Orientierung zu finden in dem, was er jahrzehntelang gemeistert hat: die tänzerische Bewegung. Der Körper sieht sich hier ganz auf sich geworfen und scheint an dieser Situation zu scheitern. Dann erklingt die Musik – Bachs Allemande aus der Partita Nr. 4, eine tröstliche Musik, eine Musik, die dem Ich Halt gibt. Jetzt findet der Tänzer zu seiner Bestimmung, lässt leise choreographische Ausdrucksformen entstehen – die Bewegungen werden ruhiger, bekommen Form, wenngleich sie nur noch wie Kürzel größerer Zusammenhänge wirken. Der Tänzer spricht zu seinen Händen, die Musik wird ihm noch einmal das, was sie immer war, Partner. Dann dreht er sich um, wendet uns sein Gesicht zu, hält wieder die Hände ausgestreckt. Der Vorhang schwebt wieder heran, doch diesmal lässt er es zu. Kylián ist hier ein existentielles Stück um Abschied und zugleich um Ergebung ins Schicksal gelungen, konzentriert, anrührend, erschütternd, aber auch Hoffnung stiftend, von Rous kongenial umgesetzt.
Mit Rastlos ist der neue Ballettabend in Hannover überschrieben. Das mag auf die Geschlechtersatire von Timulak zutreffen, für Nunes wäre der Begriff Unruhe zutreffender, mit dem das Staatstheater den Titelbegriff modifiziert. Vielleicht wäre als gemeinsamer Nenner die „Schwierigkeit des Lebens“ die beste Charakterisierung für einen in drei sehr unterschiedlichen Facetten das menschliche Leben umkreisenden Ballettabend.
Die Vorstellung wurde vom Livestream des Staatsballetts Hannover rezensiert.