Was für ein Auftakt! Zu den martialisch-absurd verzerrten Klängen von Schostakowitschs Fünfter Symphonie treffen zwei Welten aufeinander – die der Männer und die der Frauen. Beide verbinden sich freundschaftlich-kollegial, jeweils geleitet von einer Art Anführer – grandios auftrumpfend Riccardo Ferlito und ähnlich auftrumpfend, doch weicher in den Bewegungen Irene Yang, beide mit gleichem temperamentvollen Furor. Obwohl er sich auf ein fast klassisches Bewegungsrepertoire beschränkt, gelingt Emanuele Babici eine fulminante Dramatik, die zunehmend in einem Kräftemessen zwischen Mann und Frau kulminiert, der sich zwar zunächst in einer Art Liebesverhältnis auflöst, freilich mit gewaltsamem Tod endet und bei dem am Ende die Frauen den Sieg davontragen. Ein hochkonzentriertes, schon vom Titel her – Veritas vos liberat (Die Wahrheit befreit euch) – metaphorisches existentielles Drama von nur 12 Minuten, bei denen nicht eine Sekunde zuviel ist.

Veritas vos liberat
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Um Machtdemonstrationen, gar den Versuch, das andere Geschlecht zu beherrschen, geht es andeutungsweise auch im letzten Stück des Abends. Doch leidet Martino Semenzatos 2m² of Skin (Zwei Quadratmeter Haut) – an der Musik, die aus drei sich nicht zur Einheit fügen wollenden Stücken besteht. Entsprechend zerfällt auch seine Choreographie in Szenen, die eher unverbunden nebeneinander stehen und sich gegen Ende fast in einem gefälligen Ästhetizismus auflösen. In den linearen Zeichnungen auf den Oberkörpern – nur rechts bei den Männern, beidseitig bei den Frauen – mag man Symbolik über Vollständigkeit und Einseitigkeit erkennen, doch bleibt das folgenlos für den Tanz.

2m² of skin
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Dass Partnerschaft und Suche nach Sinn im Leben schwierig ist, zieht sich durch mehrere Stücke. In Lucyna Zwolinskas Sweet Spot suchen drei Tänzer nach einer ausgewogenen Mischung aus Gemeinschaftlichkeit und Individualität. Sie umkreisen einander nicht selten in Bodennähe, mal zu dritt in symmetrischen Bewegungen, mal schert einer aus dem Kreis der drei aus und versucht, eigene Wege zu gehen. Das ist von Timoor Afshar, Christian Pforr und Adhonay Soares da Silva grandios in den zum Teil komplexen Bewegungsmustern realisiert, enthält aber ansonsten zu wenig Substanz.

Sweet spot
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Noch ehe der legendäre John Cranko Ballettchef in Stuttgart wurde, gründete 1958 Fritz Höver die nach dem nicht minder legendären Ballettchef am württembergischen Herzogshof im 18. Jahrhundert benannte Noverre-Gesellschaft, erst um das Ballett dem Publikum nahezubringen, dann zusammen mit Cranko, um choreographischem Nachwuchs eine Chance zu bieten. Viele von denen, die hier in den vergangenen Jahrzehnten erste Proben ihres Könnens ablieferten, stiegen in die Riege der führenden Choreographen auf von John Neumeier über William Forsythe bis Marco Goecke. Seit Auflösung der Noverre-Gesellschaft wird die Tradition, jungen Choreographietalenten eine Bühne für ihre ersten choreographischen Arbeiten zur Verfügung zu stellen, vom Stuttgarter Ballett weitergeführt, das seit kurzem sogar neben den drei Aufführungen im Stuttgarter Schauspielhaus die Arbeiten über das Internet eine Woche einem weltweiten Publikum zugänglich macht – in diesem Fall allerdings aus musikurheberrechtlichen Gründen nur sieben von den acht Stücken; auf diesem Angebot basiert auch die vorliegende Kritik.

ABỤỌ
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Bedeutsam gerade für die nachwachsenden choreographischen Talente ist der Umstand, dass ihre ersten Arbeiten von den grandiosen Tänzern des Stuttgarter Balletts realisiert werden. So bezieht ABỤỌ von Nnamdi Christopher Nwagwu einen Teil seiner Wirkung sicher der komödiantischen Tanzbegabung von Riccardo Ferlito und Edoardo Sartori, die in dem kurzen Stück Anfänge einer aufkeimenden Kameradschaft, Freundschaft, ja Liebe zweier Jugendlicher auf die Bühne bringen. Nwagwu überzeugt mit dieser Arbeit nicht einmal so sehr durch choreographische Einfälle, als vielmehr durch eine präzise Charakterisierung freundschaftlicher Nähe durch kleine Gesten bis hin zu einem schüchternen flüchtigen Kuss auf die Wange.

Je ne regrette rien
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Von solch unbeschwerter Zuneigung kann die Protagonistin bei Adrian Oldenburger nur träumen. Je ne regrette rien ist sein Stück überschrieben, natürlich mit Chansons von Edith Piaf, doch nach deren „Vie en rose“ steht am Ende eben doch Bedauern. Was die junge Malerin in diesem Stück an ihrer Staffelei malt, sehen wir nicht, doch was sie sich vorstellt, wartet schon zu Beginn des Stücks schattenhaft im Hintergrund: ein Liebespaar. Das gewinnt dann Leben, wie es sich bei Malerei gehört, durch Farben, die sich die beiden auf die Körper schmieren. Als freilich die Malerin mitmachen will bei dem kleinen künstlerisch von ihr herbeigeträumten Glück, erkennt sie, dass Kunst und Leben eben doch zweierlei Dinge sind.

#fivewithfive – Just a few moons away
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Liebesglück und Liebesleid kann auch sehr humorvoll auf die Bühne kommen – scheint aber doch ein Traum zu bleiben. Bei Anne Jung sehnt sich in betörend dunkelblaues Licht getaucht eine Frauenfigur nach Liebe, die ihr von zwei Paaren vorgeführt wird. Es bleibt beim faszinierend imaginierten Wunschtraum; die Protagonistin bleibt einsam zurück, offenbar um Welten von dem herbeigesehnten Glück entfernt, wenn man den Titel richtig deutet: #Fivewithfive. Just a few moons away.

Earth spell
© Roman Novitzky | Stuttgarter Ballett

Auch dies wie die meisten Stücke des Abends eine reizvolle Miniatur menschlicher Gefühle – die offenbar dazu neigen, über die Stränge zu schlagen, so jedenfalls bei Maya Popovas Earth Spell. Hauptfigur bei ihr ist eine Art Gaia, jene Erdmutter der antiken Mythologie, der alles entspringt. In diesem Fall sind es drei Töchter, die aus ihrem riesigen felsgrauen Reifrock hervordrängen und in drei Geburtsschüben entlassen werden – freilich, als sie allzu selbstständig zu werden drohen, auch wieder zurück in den Mutterschoß geholt werden müssen. Auf diese Weise bleibt ihnen immerhin die kämpferische Existenz erspart, die zu Beginn des Abends Emanuele Babici in seinem Meisterwerk auf die Bühne gebracht hat.


Die Vorstellung wurde vom Livestream des Stuttgarter Balletts rezensiert.

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