Schon die leere Bühne der Wiener Staatsoper macht deutlich, dass es in diesem Stück um klassische Eleganz ohne jeden Schnörkel geht. Der Hintergrund ist in helles Himmelblau getaucht, dazu passend die hellblauen Gewänder der beiden Tänzer. Und es geht um die Musik, in diesem Fall von Frédéric Chopin. Der Pianist ist Teil der Choreographie, sitzt mit auf der Bühne, links am Rand, und immer wieder blickt vor allem die Tänzerin sinnierend zu ihm hinüber, berührt auch hin und wieder den Flügel, als wolle sie über die soeben verklungene Musik noch ein wenig nachdenken.
Auch die Struktur der Choreographie macht deutlich, dass Jerome Robbins mit Other Dances eine solche zeitlose Klarheit angestrebt hat. Beide Tänzer treten jeweils im Wechsel mit zwei Soli auf, flankiert am Anfang und Ende von zwei Pas de deux. Der Tanz orientiert sich ganz an der großen Balletttradition inklusive Spitzentanz. Die Tänzerin brilliert durch elegante Armbewegungen und Drehungen, der Tänzer durch virtuose Sprünge. Das alles wirkt schlicht, ist aber hochvirtuos angelegt, und Davide Dato und Hyo-Jung Kang vom Wiener Staatsballett brillieren in beidem. Vor allem machen sie deutlich, worum es Robbins außerdem ging: Other Dances ist ein Stück über tänzerische Schwerelosigkeit. Die Bewegung scheint ganz aus sich selbst heraus zu entstehen. Daher betreten die beiden die Bühne auch nicht als Tänzer, sondern als Menschen wie du und ich. Sie schreiten einfach nach vorn und beginnen dann den eigentlichen Tanz.
Und doch schleicht sich auch ein leises Unbehagen ein. Robbins hat eine reine Nummernchoreographie kreiert. Nach jedem Solo verneigen sich die Tänzer, desgleichen nach den Pas de deux. Während der Soli verschwindet der nicht tanzende Partner von der Bühne. So zerfällt das Stück in lauter Einzelepisoden. Und „zeitlose Schönheit“ bedeutet zudem immer auch einen Hauch von Rückbesinnung, ja Klassizität. Nach inzwischen fünfundvierzig Jahren – Other Dances wurde 1976 uraufgeführt – wirkt das Ballett eindeutig einer früheren Epoche zugehörig.
Noch weiter zurück reicht der Blick beim dritten Stück des Abends. George Balanchine schuf seine Liebeslieder Walzer 1960 und siedelte die Handlung, so man davon sprechen kann, im 19. Jahrhundert an. Die Damen tragen Biedermeierkleider, die Herren Frack, wir wohnen einem Tanzvergnügen der gehobenen Bürgerlichkeit bei. Alles ist hier stimmig, selbst die vier Sänger, die die Liebesliederzyklen von Johannes Brahms intonieren, tragen entsprechende Kostüme. Zu jedem der oft kurzen Walzerlieder entwickelt Balanchine eine kleine Geschichte. Da gibt es die kokette Dame, die gefühlvolle Romantikerin, den draufgängerischen Herrn, den eleganten Galan; jede Geschichte ist anders, nichts wiederholt sich.
Im 2. Akt tanzen dann, so Balanchine, nicht mehr die Menschen, sondern deren Seelen. Man könnte auch sagen, der Gesellschaftstanz verwandelt sich in reines Ballett. Die Tänzerinnen tragen entsprechende Kleider, die Tanzschuhe sind Ballettschuhen gewichen; mit Hebungen und Spitzentanz wird hier klassisches Ballett vorgeführt. Saßen im 1. Akt, wie bei einem Ball üblich, auch die nichttanzenden Teilnehmer auf Bänken im Saal, sind jetzt nur die jeweils Tanzenden auf der Bühne.
Das ist alles brillant ausgedacht, konzipiert und von den Tänzern des Wiener Balletts grandios realisiert, aber selbst für 1960 eine deutliche Reverenz vor einem früheren Jahrhundert.
Ganz anders das Concerto von Lucinda Childs. Es verblüfft mit einer erstaunlichen Modernität, die geradezu unsterblich zu sein scheint. Das liegt sicher auch an der von ihr gewählten Musik. Nicht die romantische des gebürtigen Polen Chopin, sondern die moderne des Polen Henryk Mikołaj Górecki von 1980. Das Stück für Cembalo und Orchester ist typisch für dessen „reduzierten“ Stil: einfache Akkorde, leicht eingängige musikalische Phrasen und ein tänzerischer Drive machen aus dem neunminütigen Werk fast schon so etwas wie Minimal Music, und das kommt Childs sehr entgegen, die sich ja sehr viel mit Philip Glass auseinandergesetzt hat. Ihre Choreographie besteht aus lauter kurzen Bewegungsabläufen, mehr Momentaufnahmen denn fortlaufender Tanz, die sie, der Musik entsprechend, mit Tempo und Energie über die Bühne jagt. Dabei halten die Tänzer immer wieder inne, bleiben einige Sekunden reglos stehen, was dem dann wieder einsetzenden Tanz zusätzliche Dynamik verleiht. Es ist, als warteten die Tänzer geradezu darauf, wieder loszulegen; sie wirken wie getrieben, als ob Tanz ihnen ein inneres Bedürfnis wäre.
So schlicht die einzelnen Bewegungsabläufe auch wirken, das Ballett ist dennoch eine Herausforderung für die Augen. Auf den ersten Blick scheinen die Tänzer – manchmal sind sie zu siebt auf der Bühne – alle dasselbe auszuführen, doch dann entdeckt man bei dem einen oder anderen leichte Abwandlungen, ein „aus der Reihe tanzen“, ehe sie oder er sich dann wieder in die Reihe der anderen zurückbegibt. Das ist ein raffiniertes Spiel mit Gleichklang und Variation, Harmonie und Disharmonie, Ordnung und Chaos.
Das Resultat ist eine in sich geschlossene Choreographie aus reinster Bewegung, die sich ganz aus der Musik heraus ergibt. Auch diese Choreographie kann man als „zeitlos“ bezeichnen, schließlich ist auch sie bereits fast dreißig Jahre alt, doch ist hier „zeitlos“ nicht im Sinne einer Klassizität gemeint, sondern zeitlos im Sinne von modern. Das Stück wird auch noch in zehn Jahren aufregend neu wirken, zumal wenn es so energiegeladen realisiert wird wie von den sieben Tänzerinnen und Tänzern des Wiener Staatsballetts.
Das Stück von Lucinda Childs bewahrt den Abend davor, rein museal zu sein, hat aber mit dem Titel des Programms, Liebeslieder, kaum etwas zu tun und ist mit seinen neun Minuten Länge kein Gegengewicht zum Rest des Programms. Und so stellt sich die Frage, ob im dritten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht eine Neuschöpfung angemessener wäre, die in einen kreativen Dialog mit der klassischen Tradition hätte treten können.
Die Vorstellung wurde vom Livestream des Wiener Staatsballetts rezensiert.