Als Marco Goecke sich in einem abendfüllenden Werk dem großen Tänzer Nijinsky widmete, brachte er zu Beginn eine Gestalt auf die Bühne, deren Körper ein einziger siedender Vulkan zu sein schien. Die Gliedmaßen zuckten, der Körper wiegte sich – es war eine typische Goeckefigur, wie sie seit seiner Choreographie Äffi 2005 zu seinem Markenzeichen geworden war: Tänzer, deren Hände flattern, Arme huschen, deren Körper eine einzige Nervosität zu sein schienen. Auch La Strada, das er 2018 nach dem Filmklassiker von Federico Fellini für das Gärtnerplatztheater in München schuf und das nun coronabedingt mit einer Aufführung ohne Publikum (mit Ausnahme einiger Theatermitarbeiter) als Stream im Netz zu sehen war, beginnt mit einer solchen Figur. Aber während diese nervöse Körperlichkeit früher weite Strecken seiner Choreographien prägte, ist Goecke mit den Jahren ruhiger geworden. Hatte er früher die Bewegungen in lauter minimalistische Einzelteile zerlegt und diese wie im Zeitraffer in flackerndem Licht auf die Bühne bringen lassen, schien er sie zunehmend wieder zusammengesetzt zu haben. Vor allem sind diese Zuckungen nicht mehr Selbstzweck, und das gilt vor allem für La Strada. Hier dienen sie dazu, die Figuren zu charakterisieren, und das sind Menschen, die sich in ihrer Haut nicht wohlfühlen.

La Strada
© Marie-Laure Briane (2017/2018)

Das gilt selbst für Zampanò, den Berserker unter den Zirkusleuten. Er spielt zwar zunehmend einen Zampano, lässt buchstäblich die Muskeln spielen, aber seine Heimat ist die Zirkusarena, nicht das Privatleben; hier kann er offenbar nur eines: Gewalt ausüben. Das galt für Rosa, seine Frau, die gleich zu Beginn im Hintergrund umkommt. Das gilt für Gelsomina, die er wie eine Sklavin gekauft hat und zur Assistentin für seine Zirkusarbeit abrichtet. Beide traktiert er mit Handkantenschlägen auf den Hals. Rosa stirbt daran, Gelsomina ergibt sich dem Leid in hündischer Abhängigkeit. Goecke folgt ganz der Charakterisierung, die Fellinis Film vorgibt, aber bei ihm ist die Gewalt krasser, die Unmenschlichkeit Zampanòs noch gefühlloser. Goecke erweist sich als Meister in der Charakterisierung von Figuren allein durch Körperhaltung und Bewegung. Jeder Schritt, vor allem jede Handbewegung hat den nötigen Ausdruck hierfür.

La Strada
© Marie-Laure Briane (2017/2018)

So folgt Goecke zwar Fellinis Film, doch nicht, indem er dessen Handlung nacherzählt. Diese sollte man vielmehr kennen, denn er belässt es da bei minimalen Andeutungen. Goecke erzählt den Film, indem er dessen Charaktere aufgreift, intensiviert und in ihren Auswirkungen auf die übrigen Figuren deutlich macht. So steht Gelsomina, als sie sich in den Seiltänzer Matto verliebt, nicht einfach nur zwischen zwei Männern, sondern zwischen zwei Mentalitäten, die Goecke rein durch Bewegungscharakteristika deutlich macht. Auf der einen Seite Zampanò mit virilen, kraftvollen Bewegungen, auf der anderen Matto mit weichen, fließenden Bewegungen.

La Strada
© Marie-Laure Briane (2017/2018)

So erschafft Goecke zwei atmosphärische Welten, und Gelsomina schwankt zwischen beiden. In ihr hat Goecke nicht nur das naive Mädchen wie bei Fellini, bei ihm ist sie ein Mensch, der keine eigene Persönlichkeit hat und jedem folgt, der sich ihr voranstellt. Wie sie das tut, ist freilich aufregend unterschiedlich. Bei Zampanò folgt sie dem Drill, mit dem er ihr den Zirkusauftritt einbläut, bei Matto folgt sie einem poetischen Bewegungskünstler, dem einen folgt sie aus Gehorsam, dem anderen aus Neigung. Goecke schafft so ein ganz eigenes Handlungsballett. Hier wird nicht Handlung durch Bewegung erzählt, hier sind die Bewegungen, die Körper und ihre Aktionen die Handlung. Und Gelsomina findet ihre eigene Sphäre der Freiheit, wenn sie den Clown geben darf. Wie Serena Landriel das gestaltet, ist faszinierend, desgleichen, wie ihr Körper die unglaubliche Bewegungsfantasie des Choreographen in aberwitzigem Tempo umsetzt. Da scheint jeder Knochen ihres Körpers völlig eigenständig zu sein, es gibt keine Wendung des Körpers, die ihr nicht wie selbstverständlich gelingt. Aber auch die Charakterisierungkraft von Alexander Hille als herrischer Zampanò und Luca Seixas als weicher, poetischer Matto ist grandios. Und wenn Serena Landriel mit ein wenig Schminke zum Clown mutiert, möchte man sie am liebsten als Lehrmeisterin in jeden Zirkus schicken.

La Strada
© Marie-Laure Briane (2017/2018)

Das alles kommt ohne Zirkusfolkloristisk aus, dient allein der Verdeutlichung von Gefühlen bzw. Gefühllosigkeit und den daraus resultierenden Beziehungen zwischen Figuren, die letztlich alle tragisch enden müssen, weil die Welt nichts anderes zulässt. Marco Goecke hat in den letzten zwanzig Jahren eine Vielzahl großer Choreographien geschaffen, La Strada dürfte eine seiner größten sein und hat in den Tänzern des Gärtnerplatztheaters die ideale tänzerische Potenz gefunden – in jeder Beziehung atemberaubend in jeder der rund neunzig Minuten.


Die Vorstellung wurde vom Livestream des Gärtnerplatztheaters rezensiert.

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