Sasha Waltz verglich in ihrer Begrüßung die Herausforderungen ihrer neuesten Produktion In C mit einem Fußballspiel: die Mannschaft hat hart trainiert und jeder Spieler/Tänzer kennt seine Aufgabe, aber jedes Spiel/Aufführung entwickelt sich anders. Das Ergebnis ist dementsprechend nicht vorhersagbar. Des Weiteren hob sie den demokratischen Charakter dieser experimentellen Premierenvorstellung hervor: Jeder Tänzer entscheidet auf der leeren Bühne selbst darüber, wie oft sie oder er die einzelnen Bewegungsabläufe wiederholt. Dies kann aber nur mit Blick auf die Aktionen der Mittänzer zu einer gemeinsamen Vorstellung führen. Damit hat die Choreografie einen gewollten aktuellen Bezug: die Freiheit, die wir uns persönlich nehmen, darf nur mit Rücksicht auf andere genommen werden.
Der Abend beginnt mit den schwarzen Schatten der Tänzer vor einer grellroten Leinwand wie im Kino. Die Musik von Terry Rileys 1964 entstandenen Komposition kommt vom Band, 1998 live aufgenommen vom amerikanischen Ensemble Bang on a Can. Neben Streichern und Schlaginstrumenten erklingen E-Gitarre, Saxofon und eine chinesische Pipa. Das Stück besteht aus 53 musikalischen Figuren, die nach individuellen Ermessen der Musiker eingesetzt und wiederholt werden. Die Motive müssen in der vorgegebenen Reihenfolge von 1 bis 53 ausgeführt werden, wobei der Unterschied zwischen den Stationen der einzelnen Spieler nicht mehr als zwei bis drei Spielelemente betragen darf.
Waltz und ihre Tänzer hatten nun gleichermaßen 53 einzelne auf sich selbst stehende Bewegungsabläufe choreografiert und sich für deren Abfolge mit dem der Musiker vergleichbare Regeln auferlegt. Die aussagekräftigen Tanzbewegungen variieren von akrobatisch schnellen (Ver)drehungen und eleganten dem indischen Tanz nachempfundenen Hand- und Fingerausdruck bis zu exhibitionistischem Alltagsgesten, wie dem Posieren für ein Selfie. Bei aller rhythmischen Präzision leben diese Körperbewegungen von der persönlichen Auffassung der unterschiedlichen Charaktertänzer. Es war verblüffend zu sehen, wieviel unterschiedliche Emotionen ein und derselbe Bewegungsablauf bei den verschiedenen Ausführenden hervorrufen konnte. Was diese Tanzvorstellung aber vor allem so überaus spannend machte, war die eingeforderte Spontanität der einzelnen Tänzer. Alle zehn Frauen und Männer tanzten fließend von einem Bewegungsablauf zum nächsten und hielten dabei den gesamten Bühnenraum im Auge. Auf diese Weise entstanden nicht nur intime Pas de deux, bei denen sich Körper auch einmal ineinander verschränkten, es fanden sich auch größere Gruppierungen zusammen, die die Wucht von Waltz' lebendiger Körpersprache unterstrichen. Die Tänzer entschieden selbst, wann eine Figur in der jeweiligen Konstellation auszelebriert war und konnten ihrer inneren Stimme folgen. Während sie immer wieder bis an die Grenzen ihres Könnens gefordert waren, konnten sie sich, wenn nötig, auch eine Verschnaufpause gönnen und so den Fokus für die folgenden Aktionen schnell wieder herstellen.
Die einfarbigen Kostüme von Jasmin Lepore geben den Tänzern starke Farbakzente, die mit dem in ständig raffiniert wechselnden Lichtfiltern (Olaf Danilsen) getauchten Bühnenhintergrund wohltuend kontrastierten. Der in Zusammenarbeit mit arte concert entstandene Livestream öffnet auf spannende Weise dem normalen Publikum unzugängliche Perspektiven. So wurden oft auf einzelne Tänzer eingezoomt und konnte man die Tanzfläche bisweilen auch aus der Vogelperspektive anschauen, von wo aus manche Passagen wie der Tanz bunter Derwische wirkt.
Nach 45 Minuten war die Musikaufnahme zu Ende, die Tänzer jedoch hatten ihre Choreografie von 53 Bewegungskompositionen noch nicht durchlaufen. Sie tanzten ohne Musik weiter; man konnte sie atmen, springen und rhythmisch stampfen hören. Phänomenal, wie die Tänzer (Davide Di Pretoro, Edivaldo Ernesto, Melissa Figueiredo, Hwanhee Hwang, Annapaola Leso, Michal Mualem, Zaratiana Randrianantenaina, Aladino Rivera Blanca, Orlando Rodriguez und Joel Suárez Gómez) den nicht mehr hörbaren Puls fühlten und miteinander das bunte Spiel spektakulär zu Ende brachten. Ein klarer Heimsieg des Berliner Ensembles im radialsystem Berlin.
Die Vorstellung wurde vom Livestream aus dem radialsystem rezensiert.