Wozu ein neuerlicher Lockdown in den Niederlanden nicht gut sein kann. Statt einer Liveveranstaltung am Samstag in Amsterdam entschied ich mich für einen Livestream des Wiener Staatsballetts am Sonntag. Und ich bin vom dort Gesehenen noch immer ganz aus dem Häuschen. Das Wiener Staatsopernorchester spielte eindringlich emotionsgeladen Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz und das berühmte Adagietto aus Mahlers Fünften Symphonie zu Fly Paper Bird, einer neuen Tanzkreation des Wuppertaler Choreographen Marco Goecke, der darin eine Zeile meiner Lieblingsschriftstellerin Ingeborg Bachmann zitiert: „Was auch geschieht: du weißt deine Zeit, mein Vogel.“
Man kam in Wien wohl nicht mehr um Goecke herum: Nicht nur wurde Hannovers Ballettdirektor in der Kritikerumfrage der Zeitschrift tanz zum Choreographen des Jahres 2021 gewählt, auch in den Niederlanden wurde Goeckes The Big Crying zur beeindruckendsten Tanzproduktion des Jahres nominiert.
Und Goecke ist nicht nur ein ungemein produktiver Choreograph – in den letzten 20 Jahren hat er um die 80 Stücke geschaffen –, sondern auch ein ungemein eigensinniger und humorvoller Charakter. Dazu zwei Beispiele aus einem aktuellen Interview: „Ihr habt in Wien dieses großartige Orchester! Aber ich muss gestehen, dass es für mich immer schwierig ist, Orchestermusik zu finden, weil ich in meiner Arbeit doch gerne sehr nah am Kommerziellen bin, an Pop oder Jazz.“ und „Tanz ist das Gegenteil von Tod. Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, fühle ich, dass ich älter und müder und manchmal auch frustrierter werde. Aber wenn ich aus dem Fahrstuhl komme und die Musik vom Training höre, bin ich wie ein Hund, der die Fährte aufnimmt.“
Mahlers Musik muss es ihm angetan haben! Vom ersten Moment an liegt Spannung in der dunklen Bühnenluft. Thomas Mika hat seine leere Bühne nur mit einigen Nebelschwaden angetupft, im Verlauf des halbstündigen Balletts erscheint im Hintergrund ein weißer Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. Seine schwarzgerasterten Anzüge in Kombination mit hautfarbenen ebenfalls grob schwarz bemalten Shirts unterstreichen Goeckes expressive Körpersprache. Die vier Tänzerinnen und sieben Tänzer zittern, ihre Arme, Schultern und Hände kratzen, flattern und schluchzen in oft eckigem Gestus und doch sind alle Bewegungen im Fluss.
Rebecca Horner tanzte ihren Solopart mit einer Mischung aus Zerbrechlichkeit und stiller Leidenschaft. Im modernen Pas de deux mit Daniel Vizcayo verstricken sich beide Tänzer in wild gestikulierte Körpergefechte, die, kaum locker luftig weggelacht, aufs Neue umso heftiger hervorbrechen. Das Magische an Goeckes Choreographie liegt in der Erkennbarkeit seiner virtuos entworfenen Bewegungssprache: Wer will, sieht in dieser Szene den klassischen Beziehungszwist nachts um halb eins in der häuslichen Küche. Wäre da nicht noch ein anderer Tänzer, der langsam mit unendlich traurigen Bewegungen die Bühne durchschreitet – unaufhaltsam zerrinnt uns die Zeit. Und dazu kommt der Zauber, der ausgeht von den von Patrick Lange geleiteten Wiener Philharmoniker/Orchester der Wiener Staatsoper, die diesen emotionsbefeuerten Mahler Note für Note punktgenau an die dunklen Wände nagelten. Wirklich alles passt in diesem Werk zusammen.
Die Idee des Ballettabends Im siebten Himmel, unterschiedliche Tanzstile (Balanchine und Schläpfer mit Goecke) an einem Abend miteinander zu verbinden, ist ehrgeizig und erinnert an das Sandwichformat klassischer Konzerte. Die vorgenommene Konfrontation verschiedener Sichtweisen auf den Tanz, um dadurch Reibungen zu schaffen, macht nur den Unterschied zwischen Gestern und Heute deutlich. Sie ist kaum geeignet, jedem Werk oder Tänzer seinen eigenen Platz zu geben, es gibt einfach ein Übermaß unvergesslichen Eindrücken.
Im letzten Teil von Martin Schläpfers Marsch, Walzer, Polka zum Beispiel hat Jackson Carroll zum Radetzky-Marsch einen unvergesslichen Auftritt als Theaterdirektor, der zum Publikum hin buckelnd dienert und nach einer halben Drehung sein Ensemble wutschnaubend zusammenstaucht. Das war hohe Ballettkunst, wie auch schon zu Beginn der Auftritt der ungemein eleganten Ketevan Papava in den berauschenden Kostümen von Susanne Bisovsky. Und sicher nicht zu vergessen der Schlussakt von Balanchines Symphony in C (Bizet) mit mehr als 40 Tänzern auf der Bühne: Ein Fest für Augen, Ohren und Gemüt.
Es bleibt der O-Ton von Marco Goecke: „Doch der Tanz ist das Heute, ist jetzt.”