Als „Tänzerische Höhepunkte” war das neue Programm des Stuttgarter Balletts bis zur Premiere angekündigt, und das war keine Übertreibung. Das vor über siebzig Jahren von Roland Petit kreierte Stück über einen unglücklich verliebten jungen Künstler ist längst ein Klassiker des modernen Ballettrepertoires, dessen sich unter anderem kein Geringerer als Rudolf Nurejew annahm. Jiří Kyliáns Choreographie Falling Angels von 1989 ist ein Meisterwerk für acht Frauen, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat und sein Stück über den Kleinen Tod, Petite Mort von 1991, über sexuelle Beziehungen zwischen Mann und Frau nicht minder. Doch als der Livestream begann, der eine geplante Premiere vor Publikum coronabedingt ersetzte, hatte der Abend den sehr viel konkreteren Titel Angels and Demons, und einen besseren hätte man sich zumindest für das Stück von Roland Petit kaum ausdenken können. Denn die junge Frau, die Geliebte des Künstlers, mag in seinen Augen ein Engel sein, ist aber in Wirklichkeit eine Teufelin, die mit seinen Sehnsüchten und Begierden ihr Spiel treibt.

Le Jeune Homme et la Mort
© Stuttgarter Ballett

Petit arbeitet die anfängliche Einsamkeit und Verzweiflung des jungen Mannes, der seine Geliebte vermisst, grandios heraus, indem er Stühle und Tische der Mansardenszenerie, in der das Stück angesiedelt ist, als Tanzpartner für den Mann nutzt. Das hätte ein eher kitschiges Stück mit viel Pantomime werden können, doch Petit gelang das Kunststück, mit rein abstrakten Bewegungen auf reine Schauspielerei zu verzichten. Lediglich die Muse, die den Künstler schließlich doch aufsucht, drückt abwechselnd mimisch gespieltes Verlangen und spöttische Ablehnung aus. Doch was sich tänzerisch abspielt, ist auch nach vierundsiebzig Jahren modern. Am Ende weist der weibliche Dämon dem Verzweifelten den Weg zum Selbstmord und geleitet ihn dann mit der Maske des Todes ins Jenseits, genau das, was der Titel dieser von Jean Cocteau ersonnenen Geschichte lakonisch andeutet: Le Jeune Homme et la Mort, deren Protagonisten von Hyo-Jung Kang als teuflischer Verführerin und Ciro Ernesto Mansilla als ihr Opfer grandios umgesetzt wurden.

Falling Angels
© Stuttgarter Ballett

Der Abend hätte freilich auch „Der Kampf der Geschlechter“ betitelt sein können, denn diesen Aspekt, der bei Petit in der Handlung mitschwingt, führen die beiden Stücke von Jiří Kylián in höchst unterschiedlicher Weise vor. Schon von der Besetzung her ist sein Falling Angels ein Statement zu diesem Thema. Er bringt ausschließlich Frauen auf die Bühne, die sich offenbar in ihre Rolle als partnerlose Existenzen erst einfinden müssen. So üben sie zu Beginn einzelne Posen ein, die mal an Gehen auf der Stelle erinnern, mal an ein Greifen nach der Außenwelt. Sukzessive freilich „erarbeiten“ sich diese Frauen ihre Position in der Welt und der Gesellschaft. Dabei gelingt Kylián ein spannendes Gegeneinander von betontem Besitzergreifenwollen der Situationen und zögerlichem, fast schüchternem Rückzug auf den eigenen Körper, zwischen einem selbstbewussten Betonen der eigenen Körperlichkeit und der Bewusstwerdung der eigenen Grenzen und Verwundbarkeiten. Schaffte es Roland Petit, eine konkrete Handlung in modernen abstrakten Tanzbewegungen auszudrücken, so gelingt es Kylián, abstrakten Bewegungsabläufen inhaltliche Aussagen zu verleihen, wenn auch stets nur in leisen Andeutungen. Dabei stellen sich die Figuren immer wieder auch die Frage, ob das, was sie da tun, richtig ist, denn der Titel des Stücks Falling Angels legt ja die Assoziation an ein falsches Beharren auf dem eigenen Weg hin, und immer wieder deuten kleine Bewegungen die Nähe zu Flügeln und zum Fliegen an. Es ist eine Choreographie der subtilen Andeutungen, deren Sinn der Zuschauer für sich in Gedanken ausarbeiten muss.

Petite Mort
© Stuttgarter Ballett

Im zweiten Kylián-Ballett des Abends scheinen die Frauen von den Männern abgelöst zu werden. Zu sechst bevölkern sie die Bühne mit kraftvollen, virilen Bewegungen, die noch unterstützt werden durch Degen, die durchaus auch martialisch und sportiv eingesetzt werden, wenn sie mit einem Pfeifen durch die Luft geschlagen werden. Doch dabei belassen es die Männer nicht. Zunehmend sehen sie in ihren Sportgeräten Partner, Gegenüber, mit denen sehr viel subtilere, künstlerische Bewegungsabläufe möglich werden. Spielerisch heben sie das Sportgerät, das ja auch Kampfgerät ist, mit dem Fuß in die Luft, umkosen es – bis sie es nicht mehr nötig haben, denn nun treten sechs Frauen in ihre Mitte, neue Partnerinnen, die eigentlichen, die sich durchaus selbstbewusst auch der männlichen Kampfgeräte bedienen, wenn auch auf ihre Art, fantasievoller, gefühlvoller. Außerdem haben sie ihre eigenen, man könnte sagen geschlechtsspezifischen Gegenstände: schwarze Barockreifröcke, die sie wie Requisiten mal vor sich halten, mal beiseite stellen. Schon hier drücken sich Unterschiede zwischen Mann und Frau aus – Unterschiede, die allerdings zunehmend schwinden, wenn sich aus den zwölf Einzelfiguren sechs Paare bilden, die sich auch körperlich immer näher kommen, jetzt von der Crème de la crème der Stuttgarter Tänzer grandios interpretiert. Petite Mort nennt Kylián sein Stück, eine Umschreibung für den Orgasmus, und in der Tat drücken sich immer stärker sexuelle Begehrlichkeiten aus, doch was das betrifft, war Roland Petits Stück sehr viel direkter und drastischer, und das vor über siebzig Jahren.


Die Vorstellung wurde vom Livestream des Stuttgarter Balletts rezensiert.

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