Wenn man Händels zweiteiliges, ursprünglich mal dreigliedriges Oratorium Israel in Egypt heute zeitgemäß und wie bei einigen seiner anderen Beispiele von der eigentlichen biblischen Erzählung etwas abstrahiert szenisch darstellen sollte – wovon ich zugegebenermaßen kein Freund wäre, obgleich der Komponist unter anderem sein ungehorsames Osterwerk La Resurrezione im Zuge des damaligen Höhenflugs der italienischen Oper tatsächlich auf der Bühne gab – drehte sich alles um Klimawandel, weltweite Migrationsströme und Freiheitsbewegungen in Diktaturen. Schließlich beschreibt es den Exodus der Israeliten unter Anführung Moses aus der Unterjochung Ägyptens hin ins gelobte Land, der möglich gemacht wird durch die zehnteilige Plagen-Heimsuchung des Pharaonenreichs und der Spaltung des Roten Meeres.
Naturkatastrophen und Phänomene sowie das letzte Gräuel der Todweihung aller Erstgeborenen und dem Vernichten der Verfolger drücken den Zorn Gottes aus, der – recht nüchtern betrachtet – allein in konzertanter Darbietung doch zusammen mit dem reflektierenden Dank wie gemacht ist für eine volldramatische Umsetzung. Sowohl für den Verfasser, der bis auf Carillon und Harfe, die dennoch bei Thomas Hengelbrock im Continuo besetzt wurde, für das große Orchester seines 1739 drei Tage zuvor vollendeten Saul und wirkungsvervielfältigenden Doppelchor schrieb; als auch für die Balthasar-Neumann-Ensembles, die ihr ohne unsere leibhaftige Plage der Pandemie angedachtes Tourprojekt (von dem nur der Ausflug zur NTR Zaterdagmatinee in Amsterdam zwei Tage nach dieser Aufzeichnung) mithilfe des Streams beim Internationalen Musikfest Hamburg in der Elbphilharmonie sichtbar realisieren konnten.
Darin schuf Hengelbrock mit seinem fantastischen Orchester und Chor, aus dem sich zudem die Solisten rekrutierten, trotz jener physischen Barriere des Digitalen theatralische Gänsehautmomente, von denen man sich bei aller Irrealität des Gedankes wünschte, jede Nummer des Oratoriums hätte deshalb ewig angedauert. Zwar ist es möglich, das Video noch einige Zeit anzuschauen und sich diesen Zustand bestmöglich für das temporäre Bereitstellen zu suggerieren, auf jeden Fall aber lässt sich erahnen, welchen Eindruck die Ensembles live hinterlassen hätten und in hoffentlich baldigster Zukunft werden, als sie in hohem dramatischen Daueranschlag Kontrast auf Kontrast Leidensfähigkeit, Verlangen, Lautmalerei und Lobpreis ganz nah, aufrüttelnd und bildstark erlebbar machten.
So könnte ich Chor für Chor, Arie für Arie erwähnen, um in Worte zu fassen, mit welch entschlossener und passionierter Kompaktheit und Fokussierung alle Musikerinnen und Musiker Händels Bibelkrimi zu einem künstlerischen Hotspot anfassender Identifikationswucht verwandelten; doch bleibt mir hier nur, die beiden Teile und die Solisten Anna Terterjan, Heike Heilmann, Bobbie Blommesteijn, Matthias Lucht, William Shelton, Terry Wey, Jakob Pilgram, Mirko Ludwig, Andrey Akhmetov und Thilo Dahlmann in ihrer vorzüglich puristisch-fruchtigen, auftragsgemäß dramatischen Breite und teils duettierten Entzückung feierlich-flotten, seemännischen oder intimen Erlösungsglockengeläuts allgemein anzusprechen.
Im Exodus brachen unter den imposanten Worteminenzverstärkern der Sackbuts und den flirrenden Schilderungs- und Schlachtenwerkzeugen der von Daniel Sepec geleiteten Streicher (sowie Trompeten und Stephan Möllers Paukentremoli) wirbelig-bissige Gewitter von regnenden Ungeziefern und Hagelkörnern los, wobei mit allem strikt-knackigem, kurzem Prozess der Tötung der Erstgeborenen die geschmeidige Stimmkultur des BNC nicht untergraben wurde. Sie war vielmehr – im klanglichen Markenkern und Aushängeschild des Gesangsensembles – Teil des öden Schreckens der Dunkelheit, der lastabwerfenden Freudentränen über die Rettung des israelischen Volks und dessen zärtlich-erstaunte Andacht über Gottes und Moses Wunder und Geschicke.
Moses Lobgesang rekapitulierte in ausgeweiteter Vielfältigkeit die Überwindung der kriegerischen Unterdrückung und Verfolgung verbunden mit der Danksagung an die höchste Instanz und gesegnete Macht der vertrauensvollen, gerechten und leidgeprüften Gemeinschaftlichkeit, indem die BNEs mit dynamischer und textbasierter Punktgenauigkeit leicht-entschnaufend freudetrunken oder leise seelenreich versunken Anteil haben ließen an den Emotionen der Befreiten. Sie sind in ihrer Zweischneidigkeit dabei eben einfach allzu menschlich wie zeitlos, liegen sie doch in Genugtuung über die schlimmste Strafe der Peiniger, vor allem jedoch auch damit im eigenen Blick nach vorn in eine bessere, idealere Zukunft.
Die Vorstellung wurde vom Stream der Elbphilharmonie rezensiert.