Was für ein fulminanter Auftritt! Soeben noch hatten die sechs Feen – in duftigen, farblich differenzierten Gewändern in Gelb, Grün, Rosa und Lila – ihre Reverenz und ihre Geschenke bei der Taufe der jungen Aurora dargeboten, mit deren Geburt am Königshof schon niemand mehr gerechnet hatte und die während dieser Feierlichkeiten in ihrer Wiege über allem schwebt, da fegt die siebte Fee Carabosse herein, mit einem Furor sondergleichen. Voll böser Ironie verneigt sie sich scheinbar ehrerbietig vor dem hohen Herrscher- und Elternpaar, das bei Schläpfer ungleich mehr Präsenz hat als üblich.
Ihre Darstellung war eine Glanzleistung von Claudine Schoch, und Choreograph Martin Schläpfer macht auch deutlich, woher dieser Zorn kommt: Sie war nicht geladen, wie Haushofmeister Catalabutte am Boden zerstört zu erkennen gibt – bei Schläpfer eine androgyne Figur, die Jackson Carroll mit viel Witz charakterisierte. Für die in elegantes Purpur gekleidete Fee ist diese Missachtung Grund, die schlimmsten Verwünschungen auszustoßen: Das Baby werde sich an seinem 16. Geburtstag an einer Spindel stechen und tot umfallen, was die gute Fee in Lila abmildert: Es werde nur ein Schlaf sein, aus dem ein Prinz sie erlösen könne. Das zunächst am Boden zerstörte Elternpaar, vor allem die Mutter, von Olga Esina mit hoheitsvoller Eleganz verkörpert, ist erleichtert.
In wenigen Minuten hat Schläpfer ein erregendes Märchengeschehen auf die Bühne gebracht, das zugleich psychologisch glaubhaft unterfüttert ist. Und wie wichtig die Fee Carabosse für die Märchenhandlung ist, macht Schläpfer deutlich, indem er gleich zu Beginn des ersten Aktes deren zwei Helfershelfer mit der Spindel ins Schloss schleichen lässt. Doch vor diesen auch choreographisch aufregenden Szenen wird erst einmal festlich getanzt – eine halbe Stunde lang, und da ist Schläpfer, auch wenn er gelegentlich das klassische Bewegungsrepertoire durch moderne Extravaganzen wie gespreizte Beine durchbricht, nicht sonderlich viel eingefallen. Getanzt wird allerdings brillant, etwa in Form langer Solos von Prinzessin Aurora auf Spitze, was Hyo-Jung Kang brillant realisiert.
Doch wenn die Tänzerin danach kurz nach vorn tritt, um sich für den Applaus zu bedanken, wird deutlich, dass all das weitgehend Selbstzweck ist, um den Tänzern Gelegenheit zu geben, ihre zugegeben teilweise grandiosen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Denn das ist das Problem dieses Balletts für die Ballettbühne von heute: Was zu Zeiten der Uraufführung noch weitgehend als Inbegriff des Balletttanzes gegolten haben mag, wirkt heute bieder, altbacken und im Fall von Schläpfers Choreographie nicht selten langweilig. Von den vier Teilen des Balletts bestehen drei aus Festen bei Hof, und das heißt choreographisch: aus tänzerischen Showeinlagen. Bringt man so etwas weitgehend in einer altmeisterlichen Tanzästhetik auf die Bühne, könnte man gleich die alte Choreographie des legendären Marius Petipa übernehmen, der das Stück 1890 uraufgeführt hatte, und für den Schläpfer wie so viele seiner Kollegen auch heute noch große Verehrung hegt.
Das hat er aber nicht getan. Dort, wo seine Version psychologisch tiefschürfend und tänzerisch aufregend wird, wird sein Ballett aufregend. So hat er für den Beginn des zweiten Aktes, in dem der Prinz im Wald in eine ihm fremde Welt eintaucht, die ihn schließlich zu dem von Rosen umwachsenen Schloss der Prinzessin führt, mit Giacinto Scelsis Anahit eine zeitgenössische Komposition eingefügt. Hier gelangt er zu einer Tanzsprache unserer Tage, entwickelt ein tänzerisches Leben zwischen naturhaftem Waldleben und Zivilisation. Doch diese Szene bleibt Episode. Vor allem wendet Schläpfer sich so von der Möglichkeit, den Prinzen mit einer im normalen Leben verankerten Vergangenheit darzustellen; bei ihm tritt er unvermittelt wie ein der normalen Welt entrücktes Fabelwesen auf. Der dritte Akt ist dann wieder Ausstattungsrevue par excellence, bei der die Tänzer nach ihren zum Teil nur einminütigen Darbietungen ihren Applaus abholen – beim Publikum der Wiener Staatsoper wohlgemerkt, nicht bei dem auf der Bühne versammelten Hofstaat – eine choreographisch-dramaturgische Bankrotterklärung. Damit hat Schläpfer sich bestens als Choreograph für eine Silvestergala empfohlen, mehr aber auch nicht.
So ist insgesamt ein choreographischer Zwitter entstanden, der mit mehreren Füßen in der Vergangenheit ruht und nur mit einem zaghaft in unsere Zeit tritt – ein dreieinhalbstündiger Anachronismus.
Diese Vorstellung wurde vom Livestream des Wiener Staatsballetts rezensiert.