Noch ehe das Licht angeht und wir mit der Kulisse eines Hotelfoyers auf der Bühne des Nationaltheaters konfrontiert sind, ist klar, dass es hier um Mord geht. Im Dunkel des Theaterraums ertönt das Geräusch von plätscherndem Wasser durchbrochen von ein paar verzweifelten Atemzügen und Schreien. Dann ist Stille. Choreograph Andrey Kaydanovskiy spielt damit auf einen realen Fall an und bezieht zugleich kriminologische Position, denn 2013 fand man im Wasserversorgungstank auf dem Dach des Cecil Hotels in Los Angeles die Leiche der jungen Elisa Lam, die Wochen zuvor verschwunden war. Die Polizei ging von versehentlichem Ertrinken aus, Kaydanovskiy deutet akustisch an: Es war Mord. Und es ist nicht der einzige Mord, den er für das Bayerische Staatsballett auf die Bühne bringt.
Eine der ersten Figuren des Stücks, eindeutig ein Hotelgast, hat Blut an den Händen, und der Frau, die er zu verbergen versucht, steckt ein Dolch im Rücken. Eine andere Leiche wird in einem Teppich versteckt. Krimi also, und so stellt sich die Frage, ob der Verweis auf dieses Hotel und die tragischen Vorgänge, die sich darin abspielten, für dieses Ballett nötig waren. Denn auch mit diesen zwei Leichen spielt der Choreograph auf die Realität dieses Hotels an, denn darin trieben Ende des 20. Jahrhunderts gleich zwei Massenmörder ihr Unwesen.
Das Spiel mit der historischen Realität ist auch deshalb unnötig, weil Kaydanovskiy nicht einen realistischen Krimi auf die Bühne bringt, sondern eine Kunstform, ein Kriminalballett, mehr noch, eine Kriminalgroteske, die ebenso gut in einem rein fiktiven Rahmen spielen könnte. Doch ist dies der einzige Einwand, den man gegen dieses Ballett vorbringen kann, denn Kaydanovskiy gelang ein in jeder Hinsicht spannendes, in sich logisches und vor allem vergnügliches Spektakel. Man spürt fast so etwas wie Mitleid, wenn man den beiden Mördern zusieht, wie sie verzweifelt versuchen, ihre Opfer unbemerkt zu beseitigen. Es ist, so das Fazit dieser ersten Szenenrunde in dem Ballett, gar nicht so einfach, eine Leiche verschwinden zu lassen. Wie Jonah Cook als Mörder Jack sich abmüht, die von ihm umgebrachte Prostituierte (als solche eindeutig an der Kleidung zu erkennen) mithilfe eines Teewagens fortzuschaffen, und Jinhao Zhang als Richard, sein Opfer in einem Teppich zu verstecken, sind Kabinettstücke sondergleichen. Grandios, wie diese Tänzer so tun, als wären die Körper der beiden Opfer leblose Puppen, und wie die Tänzerinnen Ksenia Rhyzhkova und Carollina Bastos sich wie widerspenstige Puppen bei diesem Treiben gerieren, ist große Tanz- und Schauspielkunst.
Kaydanovskiy nutzt das ganze Spektrum der theatralischen Groteske aus, vom Spiel mit dem steckengebliebenen Fahrstuhl über das Verwirrspiel mit den verschiedenen Hotelzimmertüren, die sich immer im falschen Moment öffnen, bis zu den immer überraschend auftauchenden Zeugen ist überwältigend. Zugleich gelingt es ihm aber auch, die Struktur eines ganz „normalen“ Krimis auf die Bühne zu bringen. Im Krimi versucht ja der ermittelnde Kommissar vom Fund der Leiche an schrittweise das, was zu dieser Tat geführt haben mag, zurückzuverfolgen. Kaydanovskiy macht das ähnlich, indem er in mehreren Szenenfolgen die Uhr immer einige Stunden zurückdreht. So ereignen sich in der zweiten Szenenfolge die beiden Morde, in der dritten spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen Mörder und späterem Opfer zu, und in einer der letzten Runden sind alle noch am Leben und gehen ihrem Tagesgeschäft nach: Die Prostituierte klopft an die Tür ihres Freiers, die junge Betty checkt gerade im Hotel ein. So kann der Zuschauer von Szenenrunde zu Szenenrunde in einer starken halben Stunde seine Spekulationen anstellen, was zum Mord geführt haben mag. Er spielt Kommissar und entdeckt als mögliche Mordmotive sexuelle Gier und Sadismus. Mit dieser Szenenstruktur führt Kaydanovskiy tatsächlich einen Krimi vor, wie er uns aus den zahlreichen Fernsehfilmen her bekannt ist, und hat doch ein ganz neues Kunstprodukt auf der Bühne geschaffen.
In der Zwischenzeit geistert die tote Elisa als Untote durch das Hotel. Séverine Ferrolier gestaltet das mit einer grandiosen naiv-unschuldigen Neugier einer jungen Frau, die nicht weiß, wie ihr geschieht.
Am Ende hören wir noch einmal im Dunkel des Theaters, wie ein Mensch ertränkt wird. Das Licht geht an und die Leiche wird in der Badewanne gefunden. Der Mörder? Man kennt ihn nicht. Auch im Kriminalballett bleibt eben so mancher Mord ohne Aufklärung.
Die Vorstellung wurde vom Livestream des Bayerischen Staatsballetts rezensiert.