Mit Titeln für ihre neuen Arbeiten tun sich Choreographen mitunter schwer, und wie sie dann ihre Stücke überschreiben, ist für den Zuschauer nicht immer nachvollziehbar, da es oft auf sehr spontanen und privaten Assoziationen beruht. Als William Forsythe 2016 eine neue Choreographie für das Pariser Ballett erarbeitete, tat er das einzig Richtige: Er nannte sie Blake Works I, denn als Musik verwendete er sieben Songs des Popsängers James Blake.
Was genau an diesen Songs ihn zu dem inspirierte, was schließlich auf die Bühne gelangte, ist freilich nicht leicht zu verstehen, denn die Texte der Songs dürften nur wenigen geläufig sein. Der Forsythe-Kenner jedenfalls dürfte sich die Augen reiben vor Verwunderung, denn der Choreograph ist bekannt für seine Dekonstruktionen klassischer Bewegungen, die er rasant, manchmal hektisch in kleinen Bewegungsausschnitten neu zusammensetzt. Hier jedoch erlaubt er sich, eine Art Balanchine neu zu erfinden. In klassisch anmutenden hellblauen Trikots und Röcken schweben die Tänzerinnen des Stuttgarter Balletts – das Werk ist Teil des neuen Ballettabends NEW/WORKS – über die Bühne, wirbeln mit ihren Partnern durcheinander. Sie tanzen auf Spitze – bei Forsythe ganz ungewohnt, und doch ist das alles kein Abklatsch des klassischen modernen Tanzes, sondern atmet eine frische Aktualität, und die Tänzer meistern diesen Spagat zwischen klassischer Moderne und neuer Erfindung virtuos. Beschlossen wird das Stück von einem Pas de deux, den Hyo-Jung Kang und David Moore hinreißend traumverloren ausführen.
Fragt Forsythe mit diesem Stück, das nun als deutsche Erstaufführung auf die Bühne kam, danach, woher der Tanz unserer Tage kommt, scheint Christian Spuck eher zu fragen, wohin wir uns bewegen. Cassiopeia's Garden nannte er es, doch was das tänzerische Geschehen mit jenem Sternbild zu tun hat, aus dem uns die stärksten Radiowellen außerhalb unseres eigenen erreichen und wo sich vor Milliarden Jahren vermutlich einmal eine große stellare Katastrophe ereignet hat, bleibt unerfindlich. Die Katastrophe ist allerdings erkennbar. Noch bei dunkler Bühne ertönt ein ohrenbetäubender scheppernder Lärm, als ob eine Welt zusammengebrochen wäre. Davon künden auch einige Posen der Tänzer, die immer wieder apathisch gegen einen Tisch gelehnt auf dem Boden sitzen. Die anderen suchen ihr Heil im Tanz, und auch der fußt wie der von Forsythes Blake Works I in der klassischen Moderne. Er bleibt allerdings allzu sehr in dieser wohl vertrauten Welt verhaftet. Zwar findet Spuck faszinierende Hebungen, interessante Verschlingungen der Körper und Gliedmaßen, doch neu ist das stilistisch nicht. So könnte die Antwort auf die Frage, wo unsere Zukunft nach einem Zusammenbruch liegen könnte, lauten: in der Vergangenheit und im Tanz. Eine konkrete Ausführung der Cassiopeia bleibt er uns schuldig.
Nach der tänzerischen Herkunft scheint auch Edward Clug mit seinem neuen Stück zu fragen. Source heißt es bezeichnenderweise, und im Programmheft verweist er auf die immense Bedeutung, die John Cranko, der legendäre Direktor, der das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm führte, für ihn hatte. Doch mit dessen Tanzsprache hat das, was Clug hier zu einer Neukomposition von Milko Lazar schuf, nichts zu tun. Eher erinnert es an seine letzte Arbeit für diese Compagnie, ein Stück, das dem Vorbild Bauhaus gewidmet war, die Tanzbewegungen in Einzelteile auseinandernahm und sie wie nach dem Prinzip eines Baukastens wieder zusammensetzte. Hier ergreifen die Tänzer gewissermaßen Initiative und regen ihre Mittänzer zu einzelnen Bewegungen an. Das wirkt marionettenhaft und witzig, verspielt und zugleich genau berechnet. Von diesem Geschehen aus ließe sich der Titel eher so verstehen, dass die Quelle für jeden Tanz das Gegenüber ist – das kann das Gegenüber eines weiteren Tänzers sein, das Gegenüber einer Gruppe oder das Gegenüber einzelner Körperteile, sodass eine Armbewegung die des anderen Armes nach sich zieht – eine Art Einführung in die Bewegungsstrategien eines Choreographen. So verstanden, machte der Titel Sinn.
Auch bei Marco Goeckes neuem Stück ist der Titel eher ein Problem. Nachtmerrie benennt er es mit dem holländischen Wort für Albtraum, der für ihn, so äußert er sich im Programmheft, jedoch nicht nur etwas Bedrückendes an sich hat, sondern auch fröhliche Seiten enthält, wie die Worthälfte „merrie“ andeuten könnte. Sein Stück ist das faszinierendste des Abends, vollendet geglückt in einer Mischung aus den für ihn typischen zuckenden Arm- und Beinbewegungen und erstaunlich harmonischen, gleitenden Gesten, die sogar innehalten, was früher bei Goecke undenkbar gewesen wäre. Wie bei Clug leiten sich auch hier die beiden Tänzer zu Bewegungen an, führen sie parallel aus, bis sich – anfangs unmerklich – die zweite Person emanzipiert, zu eigenen Bewegungen findet und dann wiederum den anderen anleitet – ein perfektes Geben und Nehmen, das von Mackenzie Brown und Henrik Erikson mit faszinierender Körperbeherrschung realisiert wird. Zudem finden sie die Balance zwischen mechanischem Annehmen der Bewegungsanleitung des Partners und eigener Individualität und zwischen düsterer Albtraumatmosphäre und heiterer Verspieltheit.
Ballettdirektor Tamas Detrich ist es mit diesem Abend vollends gelungen, das vor Ausbruch der Pandemie geplante neue Programm ohne Abstriche zu realisieren mit einem Abend neuer Choreographien im Herbst, einem Abend starker Stücke früherer Spielzeiten, einem Beethoven-Programm und diesen neuen Stücken – eine grandiose Leistung, zumal die bisherigen Programme jeweils nur einmal vor leerem Haus gespielt und gefilmt werden konnten. Erst diese NEW/WORKS durften wieder vor Publikum aufgeführt werden und werden auch noch weiterhin stattfinden.
Die Vorstellung wurde vom Livestream des Stuttgarter Balletts rezensiert.