Dass Mauro Bigonzetti mit seinem neuen Ballett für die Stuttgarter Compagnie eine Hommage an Beethoven choreographierte, wird schon im Bühnenbild deutlich. Es besteht aus einem Flügel und dem Pianisten, in diesem Fall Andrej Jussow, der die langsamen Sätze aus drei Klaviersonaten von Beethoven spielt. Und die Tänzer nehmen an dieser Hommage Teil. Sie stehen zu Beginn des Stücks um den Flügel und hören zu, lassen wie verspielt ihre Finger auf dem Flügeldeckel einen Miniaturtanz vollführen, bis sich schließlich ein Paar aus der Gruppe löst und sein Heil sucht. Man muss es so dramatisch ausdrücken, denn die Tänzergrupppe ist von Verzweiflung gequält. Bigonzetti hat neben der Beethoven-Hommage auch ein Ballett zur Situation hier und heute in Zeiten von Corona geschaffen. Deprimiert fassen sich die Tänzer an die Köpfe, wenden sich voneinander ab und scheinen dann einen Ausweg aus dieser deprimierenden Lage in der Gemeinsamkeit zu finden, in Paarbeziehungen. Einssein nennt Bigonzetti das Stück sinnigerweise. Dabei gelingen ihm höchst unterschiedliche Charaktere. Mal sind die Tänzerinnen kapriziös elegant, mal innig dem Partner zugewandt, mal fast kindlich verspielt. Bigonzetti findet für diese Beziehungen faszinierende komplexe Bewegungen.
Und die einzelnen Paare suchen das Miteinander. Enger als bei Vittoria Girelli und Alessandro Giaquinto, dem ersten Paar, kann man nicht mehr aneinander haften. Die Körper gehen eine fast untrennbare Einheit ein. Anders, aber ähnlich eng intensiv Elisa Badenes und Friedemann Vogel. Hier verschmelzen die Gliedmaßen miteinander, Beine verwickeln sich, als gehörten sie zu einem vierbeinigen Wesen. Das ist faszinierend, und doch gibt es auch Leerstellen in diesem Stück, nicht selten fahren die Tänzer mit den Armen durch die Luft, wedeln mit den Händen und gestikulieren nur.
Solche Schwachstellen finden sich bei Hans van Manen nicht. Er hat gleich zweimal Beethoven auf die Tanzbühne gebracht, und auch bei ihm war die Verehrung für dessen Musik die treibende Kraft. Geradezu wie eine Offenbarung muss dessen Große Fuge auf ihn gewirkt haben, als er sie 1968 bei Freunden zum ersten Mal hörte. Noch viermal legte er an diesem Tag die Schallplatte mit der Aufnahme auf. Vielleicht kam ihm da auch schon die Idee zum Auftakt, dass vier Tänzer mit wenigen langen Schritten auf die Bühne kommen, innehalten, dann mit hektischen Bewegungen die Musik Beethovens aufgreifen. Bereits in diesen Anfangstakten wird deutlich, wie genau van Manen den musikalischen Strukturen folgt.
Exakter kann man tänzerisch dem Fluss – oder auch Stocken – der Musik kaum mehr folgen. Van Manen buchstabiert hier geradezu die Musik durch und kreiert dabei etwas völlig Neues und Eigenständiges. Das ist in Bewegung und Körperausdruck verwandelte Musik. Bei diesem Stück meint man weniger Menschen als vielmehr Beethovens Noten tanzen zu sehen. Jeder Pause in der Musik entspricht ein Innehalten der Bewegungen auf der Bühne, jedes jähe Aufbäumen von Akkorden hat sein Pendant in immer hektischerem Ausschreiten. Wenn die musikalischen Motivfetzen in alle Richtungen zu zerfasern scheinen, greifen die Tänzer mit ausladenden Bewegungen in die Luft.
Während die Männer ihre Schautänze absolvieren, schauen die vier Frauen, die von Anfang an auf der Bühne stehen, regungslos beiseite. Dann sind sie an der Reihe. Alles in diesem Ballett ist symmetrisch aufgebaut und doch zugleich in ständiger Variationsbewegung. Das ist abstrakter Tanz zu abstrakter Musik, und zugleich bilden sich Inhalte heraus: ein sich Messen der Geschlechter, ein Gegeneinander, das im Schlussteil – van Manen lässt der Fuge noch eine Cavatina aus dem Streichquartett Nr. 13 folgen – in eine geradezu überirdisch wirkende Harmonie mündet, in der sogar die Männer Spitze tanzen.
Noch stärker um Männergebaren und weibliche Harmoniefähigkeit geht es in van Manens Stück zum Adagio von Beethovens Hammerklaviersonate, das nicht so sehr von Beethovens Musik inspiriert wurde als vielmehr durch die extrem langsame Interpretation durch den Pianisten Christoph Eschenbach. So entstand eine Studie über Bewegung und Reglosigkeit, aber auch das Gegeneinander von Mann und Frau mit sehr viel Witz. Die Stuttgarter Tänzer führen das mit der Präzision und Ausdrucksstärke aus, die gerade dieses Stück benötigt.
Man solle als Choreograph die Hände von Beethoven lassen, sagte einmal der große George Balanchine, man müsse scheitern. Man muss nicht. Das hat das Stuttgarter Ballett jetzt überdeutlich gezeigt.
Die Vorstellung wurde vom Livestream des Stuttgarter Balletts rezensiert.