Die zumindest für mich im Vergleich zur Matthäusversion theatralischere und kritisch mitreißende Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs war quasi der persönliche Startpunkt abgesagter Aufführungen über das Jahr 2020, in welches auch mindestens zwei, drei Konzerte mit Sir John Eliot Gardiner und seinen zum Verstummen gebrachten Ensembles, dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists, gefallen wären. Da ich diese seit etlichen Jahren verfolge und auch über zahlreiche Rezensionen begleite, habe ich mit einiger Verwunderung festgestellt, sie noch nie live in besagter Passionsvertonung gehört zu haben. So lockte die Wiedereröffnung der Philharmonie Luxemburg zum traditionellen – in Zeiten von Corona nicht ganz herkömmlichen – „Ouschterconcert“, das allerdings letztlich nicht stattfinden konnte. Es blieb also beim fehlenden Live-Erlebnis, bis zumindest ein die Enttäuschung lindernder Stream angekündigt wurde, für den Gardiner seine frühere, etwas jäh unterbrochene Zusammenarbeit mit der Deutschen Grammophon erneuerte. In ihm fand man sich doch zu Karfreitag zum Konzert zusammen, um nicht nur dem Tod Jesu zu gedenken, sondern der pandemischen Zäsur des unbegreiflichen, leidvollen Verlusts, der Stille und Entbehrung, mit der intensiven Wiedergabe jedoch auch ihrer individuell empfundenen Bewältigung im eigenen Zurechtkommen, des Seelenheils und der bleibenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein Osterwunder aus Oxford.
In einem kurzen Vorwort hob Gardiner dabei die Essenz der Passion hervor: Menschlichkeit und Drama. Diese Qualitäten nahmen mich komplett gefangen, weil die Darbietung vom eindringlich anspringenden Treueschwur des Eröffnungschors „Herr, unser Herrscher“ bis zum fabelhaften Schlusschor „Ruht wohl“ und vergebungsbittenden Choral „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ die Stunden bis zur Kreuzigung und den letzten Hauch Christi so operal packend, dicht und lebensnah gestaltete, dass die Ankündigung des Dirigenten und die Erwartung an seine Musiker wie die erlebte Erfüllung sowie die Spiegelung von entgegengebrachtem Vertrauen und Verlässlichkeit wirkten; Gefühle, die es derzeit ansonsten etwas schwer haben. Die Stimmen des Monteverdi Choir – natürlich auswendig eingeworfen – wiesen ihre berauschende Wucht und Lebendigkeit in Deklamation und Varianz auf, die uneingeschränkt am Geschehen der sündhaft bekräftigenden Verurteilung Jesu und der hinterfragenden Reflexion mitfühlen ließen. Den Plädoyers der Turbachöre, die auf den Körper und die eigene innere Stimme mit der Folge überkommender Schauer-, Tränen- und Ehrfurchtsreaktionen einprasselten, konnte man genauso wenig entkommen wie den kontraststarken Chorälen, die in der Ausdrucksfülle beim Chor einfach unschlagbar sind.
Im Sitzen und Stehen in den Bänken des Auditoriums des Sheldonian Theatre schien die Schar zudem optisch und dramaturgisch wie eine Menge von Aktivisten, die den Worten des Evangelisten und Gottes Sohn lauschte, die seitlich über ihnen auf den Rostrum-Vorsprüngen des Balkons standen. Im Falle des Evangelisten, Nick Pritchard, hingen sie an den Lippen seiner aufrüttelnden, feurigen, wegen des Eingehens auf die Empfindungen im wahrsten Sinne des Wortes tongebenden Rede, die mit dem ganzen Baukasten an Rhetorik und tenoral weitgefächertem Sortiment gespickt war. Pritchard wird daher fortan aus dieser Rolle nicht mehr wegzudenken sein. An seiner sollte erst der für seine expressionistische Betonung der Harmonien und Wandlung an den Grenzen der Intonation berüchtigte Peter Davoren damit betraut sein, der aber zu den betrachtenden Arien wechselte, deren erste „Ach mein Sinn“ in der verzweifelten Aufgebrachtheit zugegeben leicht übertrieben anmutete, während der lieblich-beflissende „Erwäge“-Schnitt seine Fähigkeiten ins geschmacklich anerkannte und berührend rechte Licht stellte. Im Falle Jesu, William Thomas, zeigte sich die Gemeinde in der Auseinandersetzung einbettend unbeeindruckt und überwältigt von der in der Tiefe liegenden Vehemenz seiner erschreckend gelassenen, warmen Größe.
Aug' in Aug' stand er dabei mit seinem kräftigen, sich um Ordnung vergewissernden Ankläger Pilatus (Alex Ashworth), im Ohr und Herzen blieb er vor und nach seinem Tod durch die erschütternd beruhigenden, herrlich phrasierten Laute von Alexander Chance und denen der stilistisch mustergültigen, puristisch-hingebungsvollen, diktionserlesenen, herzergreifenden Julia Doyle. Die English Baroque Soloists instrumentierten all dies derart konsistent, dass neu entfachtes Verlangen nach ihrem Live-Beiwohnen hoffentlich so schnell wie möglich wieder gestillt wird.
Die Vorstellung wurde vom Stream auf DG Stage rezensiert.