Thomas Hengelbrocks Balthasar-Neumann-Ensembles touren stets zum Advent durch ein paar neue, meistens aber ihnen vertraute, besonders gewogene Konzerthäuser. Für die diesmal geplante und dem abermaligen Corona-Lockdown zum Opfer gefallene h-Moll-Messe Bachs, die auch bei mir in der Kombination von Stück und Interpreten diebische Anziehungskraft heraufbeschworen hatte, mussten und wollten die Künstlerinnen und Künstler ihre Erfahrungen aus dem September dazu nutzen, in der zweiten Heimat in Hamburg das Werk nun per Stream zu den Menschen zu bringen. Zusammen mit den technischen Möglichkeiten der Elbphilharmonie sowie ansässiger, zur Verfügung gestellter Logistik erlaubte medizinische Disziplin, das Meisterwerk beseelt proben und vor Weihnachten als das Erfüllen eines kleinen Traums senden zu können. Denn die Wiedergabe spülte die durch die Musik entfachten höchsten Gefühle von Bedrückung, Trost und Glück in die noch merkwürdig entrückte Wirklichkeit.
Die dann gestaltenden musikalischen Maßnahmen waren es, die gleich im Kyrie überraschend auffielen und verfingen, als die Gemeinschaft der Stimmen in sehr getragenem Tempo des ersten Anrufs die momentanen Sorgen weich aufnahm, um durch die folgenden solistischen, berührenden Interludia in flehentlicher Einsamkeit mit der Kraft der Bässe flüssig und versunken in den Chor der warmen Verbundenheit zurückzulotsen. Ein in stimmiger Herzlichkeit vertrautes Bild gaben Sopran Agnes Kovacs und Mezzo Stephanie Firnkes ab, deren Christe eleison unter dem Schwung der Instrumente ein Fest aus Betonung und schmeichelnder Phrasierung wurde. Nach dem leichten Gloria sorgte selbiges Muster aus sukzessive einsetzenden Stimmgruppen im „et in terra pax“ für ein äußerst angenehmes Aufgehobensein im erhofften, vermittelten Universum der Zufriedenheit. Alt Anne Bierwirth und Konzertmeister Daniel Sepec zauberten im Laudamus te Freude ins Gemüt, indem sie als verlässliche Quellen der Klarheit wattierte Flügelschläge gen Himmelreich unternahmen, dessen Pforte sich durch das in mitfühlender, umschließender Güte und Reinheit dargebotene Gratias auftat.
Theatralisch aufgezogen werden sollte außerdem das Domine Deus, als die glücklicherweise aber zurückhaltenden, doch durch Artikulation unmittelbar belebten Bitten von Sopran Bobbie Blommesteijn und Tenor Jan Petryka zueinanderfanden. Erst suchend den Rücken zugewandt, trafen sich ihre Angesichter in gläubiger Zweisamkeit vor dem vierstimmig von einer Hälfte des Balthasar-Neumann-Chores verwundend intonierten Qui tollis, aus dessen Trauer wiederum die Engelslaute von William Sheltons schwebendem, unwirklich schönem Altus samt hinreißender Oboe d'amore von Benoît Laurent im Qui sedes erlösten. Dreieinigkeit hielt mit dem aus dem Kontrast des ehrfürchtig zäh liegenden Quoniam von Joachim Höchbauers Bass und dem vorzüglich sicheren Corno da caccia Ulrich Hübners hüpfend entsprungenem Cum sancto spiritu Einzug. Dessen rapide Geschwindigkeit stimmte exakt mit meiner inneren und Bachs tänzerischer Empfindung überein, so dass man gemeinsam frohlockend-festliche Schritte über den Wolken machen konnte.
Nach von andächtig zu überschwänglich entwickeltem Credo schmiegten sich Kovacs' und Sheltons vom Ensemble akzentreich umspielten puristischen und ergreifenden Stimmen im Glauben Et in unum Dominum licht(aufgehend) aneinander, um tröstende Vorhut des im Et incarnatus est und Crucifixus angeschwappten Meeres an Leiden zu sein, die im Zusammenhalt erschreckend behütet und erträglicher gerieten. Tanzschuhe zogen sich Chor und Orchester erneut beim Et resurrexit an, dessen Ausgeburt an ausgelassener Zuversicht über einen gleichsam locker beweglichen, besinnlichen, diktionsstarken Et in spiritum sanctum-Vortrag Daniel Ochoas zu sanften Verwirbelungen des Confiteor, dann feierlich elanvollen Hoffnungsschimmern des Et expecto führte.
Im raschen Sanctus und sorgenfreien Osanna fuhren die BNEs ihre jubilierenden Schwingen aus und bereiteten den dramaturgischen Platz der aufgefahrenen Seelen und persönlich terrestrischer Seligkeit. Auf der hinteren Empore des abgedunkelten Saals standen dazu Tenor Jakob Pilgram und Traversflötist Michael Schmidt-Casdorff, um helle Strahlen der Liebe im Benedictus zu verkünden, ehe Altus Terry Wey separiert vorne auf der Bühne sitzend alle Verletzlichkeit in sich mit uns im Agnus Dei aufsaugte. Mit dem Forte des Dona nobis pacem erhob sich auch der BNC, der sich mit dem Ensemble in Hengelbrocks Händen in vertrauender Größe in den ewigen Herzensgrund bohrte.
Die Vorstellung wurde vom Stream der Elbphilharmonie rezensiert.