Verwunderung und Unglaube überwiegen nach der Amsterdamer Premiere der auf Tatsachen basierenden Kammeroper Denis & Katya (2019) beim Opera Forward Festival der Dutch National Opera. Kann es denn wahr sein, dass wir gerade jetzt am Ende der zweiten Woche des menschenverachtenden Einmarsches der russischen Armee in die Ukraine konfrontiert werden mit weiteren verstörenden Geschehnissen aus diesem Land genialer Dichter und Komponisten? Wie sehr trüben die grausamen Kriegshandlungen uns heute den Blick auf die Geschichte des gewaltsamen Todes zweier Jugendlicher in der russischen Provinz?
Den britischen Komponisten Philip Venables trifft hieran keine Schuld. Er hatte nach dem Erfolg seiner ersten abendfüllenden Oper 4.48 Psychosis (2016) nach dem gleichnamigen Theaterstück von Sarah Kane zusammen mit dem Regisseur und Autor Ted Huffman nach einem neuen Opernstoff Ausschau gehalten. „Es ist wichtig, Geschichten von heute zu erzählen und nicht immer nur Shakespeare“, ist das Credo von Venables. Den Fakten zu ihrer sehr an Romeo und Julia erinnernden modernen Liebesgeschichte kamen die beiden durch Zufall im Internet auf die Spur.
Venables, Huffman und die Dramaturgin Ksenia Ravvina reisten nach Russland, um den Hintergrund dieser Geschichte zu recherchieren. Sie führten Interviews mit einem engen Freund von Denis und einer Journalistin, die damals in einer Internetzeitung über die Geschichte berichtet hatte. Weiteres Textmaterial fanden die drei in Zeitungsartikeln und Medienberichten. Auf einer Metaebene sind im Libretto auch Auszüge aus dem Chatverlauf zwischen Venables und Huffman zum Entstehen ihrer Oper wiedergegeben.
Aufgebaut ist Denis & Katya wie eine auf ein jugendliches Publikum zugeschnittene schrille Fernsehdokumentation: Augenzeugenberichte wechseln rasend schnell ab mit Kommentaren voll unterschiedlichster Emotionen über die Geschehnisse. Wie im Liveticker erscheinen dazu auf dem Bühnenhintergrund aufpeitschende Zitate aus den Internetkommentaren zu dem Livestream, den die zwei russischen Jugendlichen in den letzten Stunden ihres Lebens über ihre Handys an eine schnell wachsende Anzahl von voyeuristisch faszinierten Zuschauern ausstrahlen.
Die zwei hervorragenden jungen Sänger Inna Demenkova und Michael Wilmering spielten äußerst konzentriert und immens überzeugend immer wieder wechselnde Rollen: die Journalistin, der Freund von Denis, eine Nachbarin, einen Arzt, Lehrer und Mitschüler. Ein stets gleiches elektronisches Signal kündigt die rasend schnellen Perspektivwechsel an, ein anderes begleitet die projizierten Appkommentare. Mit den Rollenwechseln wandelt sich jeweils auch die Livemusik, gespielt von vier auf einer langen Reihe von Stühlen verteilten Cellisten des Residentie-Orchesters aus Den Haag. Sie lieferten verstörende Klangcluster und beunruhigende Rhythmusblöcke, im zweiten Teil dann aber auch melodiöse, beinah Barocke Exklamationen. Venables mischt seine einfachen Klangstrukturen dezent mit den elektronischen Alltagssounds unserer Zeit.
Die Handlung wird strukturiert und gleichermaßen kunstvoll seziert durch Ausschnitte aus WhatsApp-Nachrichten zwischen Librettist und Komponist, die Wort für Wort eingetippt werden. So wird das Publikum auf mehreren Zeitebenen zugleich bedient. Es wird 2022 Zeuge eines 2019 recherchierten Werkes, welches wahre Begebenheiten aus dem Jahr 2016 beschreibt.
Der rasche Wechsel von Musik, Sologesang, geschriebener und gesprochener Text, Live und elektronisch Produziertem machen die verstörenden Ereignisse und ihren tragischen Höhepunkt zu einem emotional nachvollziehbaren packenden Medienereignis. Mit Hilfe von raffiniertem Klangdesign (Simon Hendry), dezentem Lichtplan (Andrew Lieberman) und optisch verwirrender Videoeinspielungen (Pierre Martin) wird die Aufmerksamkeit des Publikums über eine Stunde lang konstant herausgefordert. Erst nach dem langanhaltenden Schlussapplaus eines erfreulicherweise überdurchschnittlich jungen Publikums gibt es Gelegenheit, die fast unglaubliche, in jeder Eskalationsphase jedoch ohne Weiteres nachvollziehbare Handlung auch emotional zu verarbeiten.
Kann Oper wirklich so aktuell sein?