„Open the border“ steht auf einem großen Banner in der Turandot-Inszenierung von Ai Weiwei in Rom vom März dieses Jahres. Aktueller als zum heutigen Zeitpunkt kann Puccinis letzte unvollendete Oper aus dem Jahre 1924 zum jetzigen Zeitpunkt wohl auch nicht sein, geht es doch um Unterdrückung und das mutige Aufbegehren eines Einzelnen. Barrie Kosky hält in seiner neuen Amsterdamer Interpretation mit einem beeindruckenden überdimensionalen Totenkopf dagegen. Ihn interessiert die Psychologie der Masse, unsere kollektiven Ängste, die uralte Unterwerfung an Tradition und starke Führer.
Bei Kosky bleibt die Interpretin der Hauptperson, Tamara Wilson, als mitleidlose Prinzessin Turandot unsichtbar. Man hört nur ihre Stimme von einem unbestimmbaren Ort über der Bühne. Statt ihrer steht der Chor der Nationaloper sowohl musikalisch, als auch szenisch im Mittelpunkt der Handlung. Kosky: „Ich denke, der Chor ist der Motor des Stücks. Die Menschen sind sehr unbeständig: Ihre Stimmungen und Meinungen ändern sich ständig. In einem Moment freuen sie sich sehnsüchtig und blutrünstig auf die Hinrichtung eines von Turandots Freiern, im nächsten sind sie plötzlich voller Sympathie und Mitleid für Calaf. Sie scheinen Turandot gleichzeitig zu verehren und zu hassen.“
Nur die Musik, die Puccini bis zu seinem Tod komponiert hatte, ist in Amsterdam zu hören und darum endet dort die Oper mit dem Tod von Liù (Kristina Mkhitaryan). Kosky hat danach zusammen mit dem Dirigenten Lorenzo Viotti für den Schluss einen Epilog bedacht, in dem der Chor aus einem kollektiven Traum erwacht, als ob Liùs Tod etwas zerbrochen und sie wachgerüttelt hätte. Dieses hypnotische Schlussbild mit einer Bühne voll schlafender Sänger und den geflüsterten Worten italienischen Librettotexts ist das Gleiche, womit diese Inszenierung auch geheimnisvoll mystisch beginnt. Victoria Behrs Kostüme wie auch Alessandro Carlettis Beleuchtung sind dunkel und erdig. Auf Michael Levines Bühne geben Knochen und Totenköpfe den Ton an. Nur in Calafs berühmter Arie „Nessun dorma”, die Najmiddin Mavlyanov zurückhaltend innig sang, wird die Bühne auf einmal zum farbenprächtigen Blumensee, dessen von großen Spiegeln reflektierter exotischer Bombast wohl als kritischer Kommentar auf die kitschige Vermarktung dieser weltbekannten Musik zu verstehen ist.
Als Mavlyanov dann noch den hässlichen Totenschädel liebkost oder gut gesichert in luftiger Höhe auf ihrem Schädeldach singt, gleitet die sowieso schon düstere Handlung ab ins Gruselkabinett. Neben der stimmlich überzeugenden Mkhitaryan sind es vor allem die Hofschranzen Ping (Germán Olvera), Pang (Ya-Chung Huang) und Pong (Lucas van Lierop), die inspiriert singend, akrobatisch tanzend und unablässig scherzend die Masse der Chorsänger in Schach halten, bis sie sich am Ende selbst als Henkersknechte entlarven.
Das Niederländische Philharmonische Orchester unter ihrem Chefdirigenten Viotti schwelgte in Extremen. Die permanente Fülle des Klangs ließ die Sänger nicht immer zu ihrem Recht kommen. Viottis Tempi waren im Durchschnitt eher niedrig. So dehnten sich die Akte trotz feierlich wohlklingender Musik zu einer langen Aufführung mit wenig Überraschungen. Die kühle, bedrückende Atmosphäre auf der Bühne gibt Denkanreize, um das Libretto ins Zeitgemäße zu übersetzen. Puccinis charakteristische Musik bietet genug zum Schwärmen und Fantasieren, es fehlt darüber hinaus jedoch ein stringenter Handlungsfluss der mehr bietet als „Turandot non esiste – non esiste che il niente!“ (Turandot existiert nicht – nur das Nichts existiert).