Tree of Codes ist aus mehreren Gründen ein Must-see: Olafur Eliasson erhebt die Bühne zum Ort eines visuellen Gesamtkunstwerks, Jamie xx bringt Club-Musik in die Oper und Wayne McGregor hinterfragt die Aufschlüsselung des Uninterpretierbaren, da er sich folgendem Thema widmet: Heutige Informationsstränge werden häufig zergliedert, reduziert und gerahmt („framing“). Auf kurze Ausschnitte reduziert, mag ein größerer Zusammenhang absichtlich geleugnet werden, aber die Ästhetik von Schnittkanten, Splittern und Scherben, wie sie die Mis-en-abymes von Eliasson und die gesampelten Pulse von Jamie xx verkörpern, übersetzt McGregor auf der Bühne der Opéra Bastille zu einem eindrücklichen Erlebnis. Aus diesen Gründen kann Tree of Codes zu einer ungemein zeitgenössischen und jungen Erfahrung werden und ist eine kritische Hinwendung auf die fragmentierenden Prozesse unserer Informationsgesellschaft. In der Umgebung der Oper mutet dieser Geste ein leicht revolutionärer Charme an. Dabei stellt Wayne McGregor lediglich seine moderne und komplexe Sicht auf die Folgen der Technisierung des Körpers und der Gesellschaft dar, die stillschweigend im Hintergrund dieses kollaborativen Werks stehen.

Tree of Codes
© Agathe Poupeney | Opéra national de Paris

Eine komplex gewachsene Entstehungsgeschichte zeichnet Tree of Codes aus: Den Anfang bildet der Roman Sklepy cynamonowe (Zimtläden) des polnischen Autors Bruno Schulz, den Jonathan Safran Foer als Material für sein Kunstbuch Tree of Codes benutzt. Hierzu zerschnitt er den Text von Schulz und setzte ihn mit Leerstellen zusammen. Textreste und Schablonen fügen sich zu Zeilen, Wörter und Satzzeichen überlagern sich collagenartig vor- und hintereinander. Dies ist die nicht mehr sichtbare Wurzel des Ballets McGregors. Hieraus keimt nun ein Prozess, angeleitet von dem Choreographen, der ebenso die Frage stellt, die auch Jonathan Safran Foer aufwirft: Welche Sinnzusammenhänge ergeben sich aus dem Seh-Prozess von zerstückelten Codes? Hiermit schließt sich McGregor einem Topos der Postmoderne an, der Dekonstruktion oder der Aufspaltung von Einheiten, und lädt dazu den Musiker Jamie xx, und den in Berlin arbeitenden Künstler Olafur Eliasson ein, ihre Sicht auf diese Fragen in das Werk zu projizieren. Zurück zur unsichtbaren Wurzel des Stückes: Der Text von Bruno Schulz spielt keine Rolle im Ballet. Der Prozess der Dekonstruktion, ausgehend Foers Bearbeitung des Textes von Schulz, ist dafür der Ansatzpunkt für das Bühnenspektakel und bildet den Trieb, der sich im Laufe des Abends in mannigfaltige musikalische, choreographische und künstlerische Ideen aufspaltet.

Tree of Codes
© Agathe Poupeney | Opéra national de Paris

Diese konstituierenden Ideen aus Musik, Choreographie und Bühnenbild wurden mit gleicher Berechtigung für diesen Abend konzipiert. Daher ergibt sich wiederum eine Zergliederung des Stückes, denn die Aufmerksamkeit des Zuschauers muss sich auf einzelne Bruchstücke aufteilen. Teilweise nehmen die wirkmächtigen Lichteffekte durch die Installation Olafur Eliassons die Überhand, wenn sich Prismen, Facetten und Lichteffekte auf das Publikum ergießen, Spots in die Zuschauermenge gerichtet werden oder Spiegel und gefärbte Folien Zerrbilder der Tänzer wie auch der Betrachter hervorrufen. Auf diese Weise funktioniert auch die Musik von Jamie xx, die gesungene Popmotive, Elektro-Beats und Piano-Suiten teils sampelt und teils in Fragmenten für sich allein stehen lässt, aber in einem engen Rhythmus und ohne Pause zu einem zehrenden Marathon verschmilzt. Die Musik ist auch mit ihrer physikalischen Präsenz bedacht, da der Bass die ersten Reihen des Zuschauerraumes erschüttert, wo vorsorglich schützende Ohrstöpsel verteilt wurden. Damit sind Bühnenbild und Musik nicht mehr funktional untergeordnet, sondern übertönen oder blenden den Tanz durch deren Gleichberechtigung teilweise aus.

Tree of Codes
© Agathe Poupeney | Opéra national de Paris

Durch die gleißenden Lichteffekte wird die räumliche Trennung des Zuschauers und der Interpreten aufgehoben, sodass ein immersives Gesamtkunstwerk entsteht, in dem sich bekannte Hierarchieebenen in Licht auflösen. Hierbei ist vor allem die technische Versiertheit des Ballet de l’Opéra und der Company Wayne McGregor eindrücklich. Die exponierte Bühne ist die eine Herausforderung, die intentionierte Blendung aller Beteiligten eine ganz andere: Diese meistern ausnahmslos alle Tänzer ohne Irrungen und Wirrungen. Dennoch bleibt ein Unterschied erkennbar. Daniela Neugebauer, James Pett oder Louis McMiller von der Company Wayne McGregor zeichneten sich durch eine individuellere Charakterentwicklung, stärkere interpretative Sicherheit und damit auch im künstlerischen Ausdruck aus, während die Tänzer der Opéra vor allem durch ihre Technik und der Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichen Stimmungsmodi des Stückes beeindruckten und agiler und adaptiver waren. Wayne McGregor hat eine anspruchsvolle Choreographie geschaffen, die subtil an Geschwindigkeit und Intensität aufnimmt und klassische Posen mit nervösen Zuckungen kombiniert, allerdings ohne eine neoklassische Ästhetik zu brechen. Diese gezielt eigene Bewegungssprache fordert die Tänzerkörper technisch so sehr, dass zweifelsohne ein bravouröser Eindruck von extremer Beherrschung entsteht. Getragen wird dieser Anspruch über das ganze Stück, sodass die technische Meisterschaft dauerhaft zur Schau gestellt scheint und auch zur Norm des Stückes verkommt, da die Bewegungssprache weniger mit der leitmotivischen Dekonstruktion gebrochen wird. Tree of Codes emanzipiert Bühnenbild und Musik im Rahmen der Theaterform auf beeindruckende Weise zu einem Gesamtkunstwerk, das eher zufällig und aus technischen Gründen im Bühnenraum funktioniert. Auf einem Musikfestival oder in einem Museum wäre das Werk ebenso zu Hause.

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