Transverse Orientation ist eine fast zweistündige glanzvolle Bilderflut, die mit einer idyllischen Wasserlandschaft endet. Stück für Stück stapeln die acht Tänzer die Podiumteile aus der Mitte der Bühne an die Seite und lassen inzwischen Wasser in die so entstandene Fläche laufen. Während ein Tänzer mit stoischer Ruhe probiert, mit einem Nassmop das Wasser aufzuwischen, liegt ein anderer genüsslich sonnenbadend am Ufer des so entstandenen Bergsees. Es ist alles nur eine Frage der Perspektive und jeder Betrachter erschafft sich während dieser Vorstellung beim Holland Festival sein ganz individuelles Mosaik.
Dimitris Papaioannou ist als Choreograph ein Geschichtenerzähler. Seine Geschichten haben meist eine doppelter Botschaft, womit er unsere herkömmliche Auffassung der Wirklichkeit hinterfragt. Mit seiner Eröffnungsinszenierung der Olympischen Spiele in Athen 2004 erlangte er internationales Aufsehen; beim Tanztheater Wuppertal war er 2018 der erste Choreograph nach Pina Bausch, der mit ihrem Ensemble ein abendfüllendes Stück inszenierte. Die neue Arbeit des griechischen Künstlers ist ein humorvoller Rausch der Bilder und der Allegorien: „My work is a kind of free fall of associations and fantasies that touch on existential questions in a light-hearted way. You can choose to meditate on them, but it’s by no means necessary. I always hope they are enjoyable in a sensual way”.
Papaioannou erzählt zu spannungsvoll langsamer Musik von Antonio Vivaldi von Unsicherheit und Gruppenzwang, vom spielerischen Kind im Menschen und vom blinden Wiederholungszwang des Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand. Im Mittelpunkt steht ein gewaltiger Stier, Symbol ungebändigter Kraft und animalischer Männlichkeit. Er steht ebenso für Zeus, der die schöne Europa raubt – ein fast schon überstrapaziertes Symbol der brüchig werdenden patriarchalen Welt. Papaioannou beteiligt sich mit seinen Tänzern an der Suche nach Neuorientierung. Die Tänzer, unter ihnen die Amerikanerin Breanna O’Mara aus dem Pina Bausch Ensemble in einer Glanzrolle, waren wesentlich am Kreationsprozess der Vorstellung beteiligt.
Zu Beginn ist der Stier nur mit Mühe im Zaum zu halten. Das Sound Design mit tief grummelnden Bässen des Mailänder Komponisten Coti K macht die Szene noch realistischer, noch bedrohlicher. Es ist die große Kunst der Theatersuggestion, wie Papaioannous Tänzer nun die lebensgroße Tierattrappe zum Leben erwecken. Aber der Stier wird gezähmt und trinkt bald aus einem Eimer Wasser, wobei die Hand eines Tänzer zu dessen roten beweglichen Zunge wird.
Die Männer tragen schwarze Anzüge (Kostüme: Aggelos Mendis), die immer wieder mit der nackten Haut kontrastieren. Auch hier gibt es einen doppelten Boden: der Ernst des Berufslebens – oft zur Sinnlosigkeit gesteigert – trifft auf die Ausgelassenheit des sinnlichen Spiels. So werden große Schaumstoffblöcke in der einzigen quälend langen Sequenz des Abends von einer Seite der Bühne auf die andere befördert – die „Bullshit Jobs“ lassen grüßen! – bevor die Tänzer sich wie zum Bade aus ihren Kleidern pellen und danach akrobatisch behändig und lauthals jauchzend darauf balancierend die Quader in Bewegung bringen. Als in der folgenden Szene ein einsamer Tänzer dieses Kunststück auf leerer Bühne im Anzug mechanisch wiederholt, fehlt dieser Aktion die Lebendigkeit und wird so zur leeren Phrase. Das Leben braucht wie die Kunst lustvolle Inspiration, um glanzvoll genossen zu werden.