Beinah sechs Wochen musste das niederländische Publikum ohne Tanz-, Musik- und Theatervorstellungen überleben. Seit letzter Woche sind die Säle wieder – bis 22.00 Uhr – geöffnet, es darf jedoch nicht mehr als ein Fünftel der bestehenden Plätze verkauft werden. Das Ergattern einer Karte ist hiermit zu einem Glücksspiel geworden. Das Miterleben der Eröffnungsvorstellung des diesjährigen Holland Dans Festivals mit dem neuesten Programm des Nederlands Dans Theater, Traces left within, in Den Haag fühlte sich unter diesen Umständen an wie ein Sechser im Lotto!

Toss of a Dice
© Joris-Jan Bos

Wie die Faust aufs Auge passte dazu Jiří Kyliáns Choreographie Toss of a Dice mit dem dieser atemberaubend multidimensionale Tanzabend begann. „Viele Bestandteile dieses Werks sind so unbeständig und unvorhersehbar wie das Gedicht Un Coup de dés (Der Würfelwurf) von Stéphane Mallarmé, das meine Hauptinspirationsquelle war”, schrieb Kylián zur Premiere 2005. Mallarmés Werk aus dem Jahr 1897 ist ein visuelles Gedicht, dessen Wörter in jeder beliebige Reihenfolge gelesen werden können und damit unendlich viele Interpretationen möglich macht. Kylián hat dieses Werk seinem 2005 verstorbenen Bühnenbildner Walter Nobbe gewidmet, mit dem er beim NDT lange zusammengearbeitet hatte.

Toss of a Dice
© Joris-Jan Bos

Nachdem sich die 12 NDT-Tänzer zu der Musik von Dirk Haubrich (basierend auf dem Klang eines einzigen Wassertropfens) nacheinander auf einer diagonalen Lichtachse aufgestellt hatten, begannen sie ein synchrones Bewegungsspiel, in dem tänzerische Eleganz und platter Humor einander die Hand gaben. Kurz darauf gehörte die in filigrane Lichtpartikel und -kreise (Kees Tjebbes) getauchte Bühne einzelnen Tänzern mit sinnlich virtuosen Soloeinlagen und rasanten Pas de deux. Die speziell für diese Vorstellung von Susumu Shingu entwickelte bewegliche Skulptur sorgt frei über den Tänzern schwebend und diese geheimnisvoll umschmeichelnd für ein unvorhersehbares Schattenspiel und entführt das Publikum in Verbindung mit den von Aurélie Cayla (2005 Tänzerin beim NDT) gefühlvoll vorgetragenen Wortfolgen aus Mallarmés Gedichtvorlage in einen visionsvollen Rauschzustand.

How to cope with a sunset when the horizon has been dismantled
© Rahi Rezvani

Es folgten zwei Uraufführungen: Auf Musik von Wagner, Cage, Ligeti und Sibelius und mit beweglichen vielseitigen Objekten von Ludmila Rodrigues hat Marina Mascarell zusammen mit Tänzern des NDT mit How to cope with a sunset when the horizon has been dismantled eine verrückte Choreographie entworfen. Deren poetische Motivation besteht darin, „in eine Kollision zwischen der Musik und den Körpern der Tänzer einzutreten.“ Die individuell ausgetragenen Auseinandersetzungen führen zu einem Wirrwarr von höchst virtuosen Einzelaktionen, die in der abschließenden Musik von Sibelius mit fließenden Bewegungen einer organischen visuell sehr ansprechenden Ensembleleistung kulminiert.

How to cope with a sunset when the horizon has been dismantled
© Rahi Rezvani

Marco Goecke hat mit seinem Stück I love you, ghosts seine mittlerweile elfte Choreographie für das NDT entworfen. Er war an diesem Abend mit dem Kylián-Ring ausgezeichnet worden; in der Laudatio wurde seine menschliche Fähigkeit hervorgehoben, den Tänzern Selbstvertrauen zu geben. In seiner Choreographie erinnert er sich an die alten Proberäume im abgebrochenen Lucent Danstheater, an das vertraute dunkle Studio 5 im Keller, das keine Fenster hatte, an die vielen Eindrücke, die auch nach dem Abriss geblieben sind. Was mag aus den guten Hausgeistern geworden sein? Sind sie auch in das neue Gebäude umgezogen?

I love you, ghosts
© Rahi Rezvani

Neun Tänzerinnen und Tänzer machten sich mit Marco Goecke auf die Suche nach ihnen. „Try to remember” singt Harry Belafonte. Zu diesem Song, aber auch Kompositionen von Ginastera, Weinberg und Rautavaara bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer in rasantem Tempo auf Slapstick-artigen Trippelschritten und spüren mit Goeckes unvergleichlicher Bewegungssprache nicht nur das Dunkle und Unbekannte auf, sondern auch viele Erinnerungen: vertraute Gesten, die wie schützende Gespenster aus früheren Räumen und früheren Stücken heraufbeschworen werden.

I love you, ghosts
© Rahi Rezvani

Der Würfel ist ein uraltes Gerät, der unseren Vorvätern helfen sollte, ihr Schicksal vorherzusagen. Und auch heute noch sind wir alle das Produkt von Millionen von Zufällen. Wie den alten Schamanen und Priestern in grauer Vorzeit gelang den Tänzern des NDT an diesem Abend in drei außergewöhnlichen Choreographien eine ebenso verstörende wie glücklicherweise auch versöhnliche Deutung unserer Gegenwart und Zukunft!

****1