Vor 60 Jahren wurde in Amsterdam Het Nationale Ballet gegründet und mit seinen aktuell 77 Tänzern gehört die niederländische Tanzcompagnie heute zu den führenden der Welt. Der fast 85- jährige Choreograph, Bildhauer, Bühnenbildner, Kostümbildner und Videodesigner Toer van Schayk hat dort nicht nur getanzt, sondern seit 1971 auch mehr als 55 teilweise bahnbrechende Werke choreographiert. Obwohl er vor zehn Jahren offiziell in Rente ging, ist er bis heute noch am Haus aktiv.
Vor drei Jahren begann Van Schayk mit den Arbeiten zu einem neuen abendfüllenden Ballett, wofür ihm das Drama Lucifer des 1587 in Köln geborenen niederländischen Dichters Joost van den Vondel als Basis diente. Der im Himmel spielende Fünfakter beschreibt den Aufstand Luzifers gegen Gott. Zur Strafe für seine Meuterei wird er vom Erzengel Michael auf die Erde verbannt, wo er, wie allgemein bekannt, Adam und Eva zum Sündenfall verführt. Leider machte die Coronapandemie dem niederländischen Ballett wie vielerorts jedoch einen Strich durch die Rechnung.
Für die ihm gewidmete Eröffnungsvorstellung der diesjährigen Jubiläumssaison hatte Van Schayk deshalb aus seinem Skizzenbuch ein kürzeres Lucifer Studies betiteltes Werk zusammengestellt. Das von ihm entworfene imposante Bühnenbild lässt sich als archaische Himmelspforte interpretieren und wird dank des fantasiereichen Lichtplans (Wijnand van der Horst) in immer neue Farben getaucht. Auf das Mittelstück werden während der Vorstellung Videobilder eines Tänzers projektiert, die entweder als Spiegelbild des Bühnengeschehens oder als dessen Kommentar fungieren.
In Van Schayks sensuellen Kostümen unterscheiden sich die sieben Tänzer nur durch die verschiedenen Farben der rechten Hände und Arme. Man könnte dies als Referenz an den Beruf Vondels verstehen, der von seinem Vater einen Strumpfhandel geerbt hatte. Timothy van Poucke tanzte die rotbehandschuhte Titelrolle ausdrucksstark und sehr wandlungsfähig. In den verschiedenen aufeinanderfolgenden Duetten kamen einerseits die Motive männlicher Virilität mittels immer wieder geballter Fäuste ins Bild, andererseits wurde auch zärtliches Umgarnen variationsreich erotisiert. Die Stärke von Lucifer Studies aber liegt vor allem in den geometrischen Figuren, die die sieben jungen Tänzer mit schwungvoller Energie und exzellenter Sprungtechnik gemeinsam auf die Bühne zauberten. Auch ohne eine zusammenhängende Handlung appelliert Van Schayks neueste Kreation an universelle Sehnsüchte nach Autonomie und Verbindung.
Das Balletorkest unter Leitung seines Chefdirigenten Matthew Rowe spielte die dazugehörige Komposition Echo’s von Joep Franssens filigran und feinsinnig. Nach kurzer Umbaupause stand dann Beethovens Siebente Symphonie auf den Pulten. Van Schayks gleichnamiges 1986 uraufgeführte Meisterwerk ist in den Niederlanden zu Recht vom Publikum und Fachjurys vielfach ausgezeichnet. Aus den Symphonien Mozarts und Beethovens hatte Van Schayk gerade deshalb die Siebente ausgewählt, da er sich von Beethovens darin eingebettetem Idealismus angesprochen fühlte, die seiner eigenen Lebensphilosophie entspricht.
Die 20 Tänzerinnen und Tänzer, allen voran der von der Schwerkraft beinah losgelöste Young Gyo Choi, gaben der bekannten Partitur eine visuelle Dimension, die mich bei meiner ersten Begegnung mit dieser Choreographie schier vom Stuhl warf. In Van Schayks klassisch-modernen Kostümen, diesmal beleuchtet von Jan Hofstra, bekamen Tänzerinnen und Tänzer sowohl in Frauen- und Männergruppen, als auch vor allem im zweiten Satz in Paaren ständig wechselnde Aufgaben und spannen einen Erzählgarn nach dem anderen. Ich vergaß Raum und Zeit und konnte nur mit Mühe freudige Überraschungsrufe unterdrücken, die mir bei vielen der überraschenden immer neuen Auftritten auf den Lippen lagen.