Es gibt Abende, die vergisst man nicht mehr: Vor 13 Jahren lud ich meine heutige Frau zu unserem ersten Date in eine Tanzvorstellung ein. In der Amsterdamer Oper gab das Nederlands Dans Theater aus Den Haag ein Gastspiel. Der Abend war ein voller Erfolg, und seit diesem gemeinsam genossenen Tanzerlebnis gehen wir als Paar durchs Leben. Danke NDT!
Es gibt Abende, da bleibt einem einfach die Spucke weg! Am gestrigen tanzte die Junior Company des Nederlands Dans Theater (NDT 2) Nadav Zelners neuestes, spritzig atemberaubendes Stück Bedtime Story. 13 junge Tänzer, die Hip-Hop-Tanzbewegungen mit irrwitzigen Grimassen und rasend schneller Akrobatik verbinden, die von rechts und links in einem atemlosen Reigen das Podium bestürmen und einen unzähmbaren Enthusiasmus versprühen. Da weiß man als Zuschauer endlich wieder, was für eine belebende Explosivkraft kreative Kunstereignisse übertragen können. Danke Nadav Zelner!
Auf mitreißende, in seiner Vielseitigkeit überraschende Musik aus dem Nahen Osten (u.a. Libanon, Tunesien und Syrien) entwarf Zelner darin ein seltsam universelles Tanzuniversum für Jung und Alt. Jede Tänzerin und jeder Tänzer waren eine Welt für sich. In den originellen, fantasievoll auf die Charakteristika der individuellen Tänzer zugeschnittenen Kostümen von Zelners Partner in crime Maor Zabar präsentierten diese sich, allen voran Sophie Whittome erst solistisch, dann in Paaren, später auch in größeren Gruppen. Mit Bewegungen, die in nicht nachvollziehbarer Individualität, virtuoser Brillanz und kaum zu folgender Schnelligkeit auf das Publikum hereinprasseln, lässt Zelner die Tanzenden im Laufe des Stücks unzählige kurze Auftritte absolvieren. Teilweise abgehackt wie im Stroboskoprhythmus, dabei aber immer in einem unaufhörlichen Strom weiterflutend, erzählen sie aufs Minimum reduzierte kleine Begebenheiten aus ihrem Leben.
Jeder Tänzer wird so zu einer liebenswerten Persönlichkeit, die intime Details aus ihrem Leben auf der Bühne preisgeben. Lebens(über)mut wechselt sich darin innerhalb weniger Sekunden ab mit tragischem Ernst. Wenn zum Ende hin alle Tänzer in langen hohen Schritten über die Bühne springen, jeder auf seine unverwechselbar eigene Art, dann wirkt das wie ein Aufruf zu mehr Mut zu Eigenheit und persönlicher Freiheit jenseits des Gruppenzwangs. Danke NDT 2!
Schon während seiner Ausbildung experimentierte der israelische Tänzer Zelner mit seiner humorvollen, teilweise absurden Tanzsprache. Er machte kurze Videoclips und choreographierte u. a. Die Dreigroschenoper, Beauty and the Beast, Aladin und Peter Pan. Im Jahr 2016 kreierte er für die chinesische Chongqing Ballet Company Choreographien, 2019 für den Eurovision Song Contest, und in der Folge auch für die Batsheva Dance Company Israel, das Theater St.Gallen und das Bolshoi Ballet Moskau.
Im zweiten Teil des The play between betitelten Abends zeigte das NDT 2 fast das genaue Gegenteil dessen, was modernes Tanztheater zu bieten hat. In Zusammenarbeit mit den jungen Tänzern hat der Spanier Marcos Morau in seiner Kreation Folkå auf die schwermütige düstere Musik von J.C. Saavedra, gesungen vom Londoner Bulgarischen Chor, vor allem auf Ensembletanz gesetzt. Wie ein lebender Organismus bewegen sich die nun 14 Tänzer auf bedrohlich lauten tiefen Trommelschlägen über die Tanzfläche. In minimalistischen Wiederholungen pulsieren Bewegungswellen von rechts nach links, von oben nach unten, nur unterbrochen von kurzen Schreien vom Musikband. Die Choreographie entführt die Zuschauer im Zusammenspiel mit der Musik und sehr dunkler Beleuchtung (Tom Visser) in eine Art Trance. Die durch Zelner geweckte Euphorie war danach immer noch zu spüren.