Dreizehn Opern hat Richard Wagner vollendet, und alle kommen in einem dreiwöchigen Marathon auf die Bühne des Opernhauses Leipzig: „Wagner22“ ist das Motto dieser Festtage. Es ist ein auch international viel beachtetes Projekt von Generalmusikdirektor Ulf Schirmer, zum Abschluss seiner letzten Spielzeit als Opernintendant diesen Kraftakt zu stemmen. 450 Gäste werden sämtliche 13 Vorstellungen besuchen. Schirmer steht bei allein neun Opern am Pult.
Diesen Wagner-Kosmos hatten noch nicht einmal die Bayreuther Festspiele im Programm; die Leipziger können es Ulf Schirmer verdanken, dass Wagners kompletter Opernzyklus, der ebenso wie die Opern von Richard Strauss seine besondere Leidenschaft genießt, zum verfügbaren Kern des Leipziger Spielplans gehört. Ganz neu ist die Idee nicht; bereits 1933 plante der damalige musikalische Leiter Gustav Brecher in Leipzig einen solchen Zyklus, wurde aber von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Abstammung vertrieben. In München realisierte Wolfgang Sawallisch 1983 einen ähnlichen Plan, die Wagner-Opern im Laufe einer ganzen Spielzeit an der Staatsoper zu zeigen.
Für Wagner-Enthusiasten ist es auch spannend, die Werke in der Reihenfolge ihrer Entstehung zu erleben. Nach den drei frühen, weniger geläufigen Opern und dem Fliegenden Holländer stand nun Tannhäuser in der Dresdner Fassung auf dem Programm. Eigentlich hätte Katharina Wagner 2018 hier inszenieren sollen, gab aber auf Grund organisatorischer Schwierigkeiten den Auftrag ab. So übernahm man Calixto Bieitos Inszenierung von 2015 der Opera Vlaanderen Gent. Barbora Horáková Joly nahm die szenische Einstudierung in Leipzig vor.
Weihevoll-füllige Blechbläserwogen eröffneten mit Choraltönen die Ouvertüre, in die sich bald feiner Celloklang mischte. Etwas kompakt wurde der Klang, als das Orchester sich in die ersten Tutti-Passagen steigerte, die Pauke überpointiert Ausrufezeichen setzte. Schon bald öffnet sich der Vorhang, mit dichtem Unterholz dunkler Büsche; schmale Baumspitzen mit wedelnden Seitentrieben, an kammartigen Balken von der Decke hängend, werden langsam nach oben gezogen, drehen sich in imaginärem Luftzug (Bühnenästhetik von Rebecca Ringst). Ein sehr naturnaher Hörselberg, in dem Venus, Waldkind wie Elfe im schwarzen Baumwoll-Hängerchen an dünnen Spaghetti-Trägern, lasziv wie gelangweilt herumstreicht.
Calixto Bieito setzt seine Inszenierung an das Ende einer postkapitalistischen und selbstsüchtigen Welt, in der eigentlich jeder verloren hat. Das in anderen Deutungen ausgelotete Spannungsfeld von Fleischeslust gegen reine Liebe interessiert ihn erst in zweiter Linie. Seine Venus ist eine Frau, die in direktem Kontakt und Ehrfurcht zur Natur, ja im Einklang mit ihr lebt. So ist auch ihre Erotik von natürlicher Freizügigkeit, spielerischer als Macht ausübend. Heinrich, der Tannhäuser, steht im Konflikt zwischen dieser zentrierten Lebensweise und den destruktiven Emotionen einer gefühlsarmen Wartburg-Gesellschaft, von der er im romantischen Überschwang beim Sängerfest abprallt.
Als Liebesgöttin überzeugte Kathrin Göring: ihre Venus nicht ein Retortenwesen, sondern von überraschender erotischer Leichtigkeit. Ihr Mezzo leuchtete in dunkler Färbung, anfangs in der Höhe etwas belegt, dann in allen Lagen weich und ungekünstelt. „Dass ich die Nachtigall nicht mehr hör“: Wagners Wortwahl, wie an anderer Stelle auch, nicht völlig im Einklang der Situation, aber Heinrich findet seinen Platz in beiden Welten nicht. Andreas Schager formte einen stimmlich überzeugenden wie darstellerisch aufwühlenden Titelhelden, dem mit der jungen Hirtin (wunderbar Bianca Tognocchi) gelöste Momente gelangen (herausragend fein Gundel Jannemann-Fischer am Englischhorn). Immer mehr durchhörbar und kammermusikalisch edel modellierte Schirmer das Gewandhausorchester zum exzellenten Wagnerklangkörper, in dem Anklänge an Webers Romantik ihren natürlichen Platz fanden. Den Sängern ließ er besten Entfaltungsraum, oft im Zusammenklang mit fabelhaftem Harfenklang (Miriam Ruf, Ruth-Alice Marino), wusste aber auch mit vollem, rundem Ton, insbesondere im Blech, zu glänzen. Als käme es aus dem Freischütz herüber: die abschließende Begrüßung unter den einstigen Kumpeln, ein wenig zu rockerhaft das Ritual des Einschmierens mit Blut.
Der zweite Akt dann mit befrackter Männerriege in hellem Saal, zwischen weißen Säulen. Kumpelhaftes Schulterklopfen, berechnende Freundschaft; voll stimmlicher Potenz Sebastian Pilgrim als Landgraf, Markus Eiche, Patrick Vogel und Randall Jakobsh. Dazwischen Schager, der geradezu mit Wiener Schmäh über das Wartburgritual herzieht, exzessiv den Tannhäuser zum Torero macht. Und eine Elisabeth, die sich in dunkelblauem Negligé und Pumps selbstbewusst bewegt, ihren sexuellen Reiz auf Heinrich spielen lässt. Dass sie im Wettstreit Heinrich beschützt, macht sie zur Aussätzigen, die von den übrigen Sängern in der Folge dekadent erniedrigt, gedemütigt wird.
Zum Star des Abends wurde die schwedische Sopranistin Elisabet Strid als Elisabeth, die überwältigende szenische Energie in ihrer Rolle schuf. In perfekter musikalischer Verkörperung der unschuldigen Erlöserin begeisterte ihre wundervoll warme Mittellage und eine dichte, klare Höhe, von mühelosen Spitzentönen gekrönt. Dazu stimmgewaltiger Breitwandklang der Volksmasse des Leipziger Opernchores, der auch spielerisch gut eingriff.
Die glänzenden Hallensäulen von Wald und Natur überwuchert: im dritten Akt endet Heinrichs Romreise im Fiasko, zu Hause berichtet ihm Wolfram vom inneren Rückzug Elisabeths. Immer mehr herausragend nun Markus Eiche als Heinrichs Freund Wolfram, ihr Zwiegespräch wurde zur packenden Auseinandersetzung. Plötzlich stehen Venus wie Elisabeth vor Heinrich, eine Apokalypse bahnt sich an. Bei aller theatralischen Drastik verzichtet Bieito auf den Tod der Protagonisten; vielleicht ist das schon ein Stück Erlösung. Doch Elisabeth ist zum Opfer der scheinheiligen Gesellschaft geworden; ohne Perspektive am Boden liegend ebenso wie der geliebte Tannhäuser. Schließlich steht nur Venus aufrecht zwischen all den Leibern, konsequent im Reinen mit sich.