Wenn Herbert Blomstedt ein Konzert zum Psalmsonntag dirigiert, geht man vermutlich nicht falsch in der Annahme, dass der gläubige Adventist an diesem Tag nicht allein große Werke zum Klingen bringt, sondern seinem Publikum auch eine Botschaft vermitteln möchte, die über das Hörerlebnis hinausgeht.

Herbert Blomstedt
© Matthias Creutziger | Staatskapelle Dresden

Eröffnet wurde das Konzert mit der Staatskapelle Dresden mit Strawinskys Psalmensymphonie, deren Aufführung ganz von Strawinskys Ideal einer Symphonie als Zusammenklang bestimmt war: Niemals überwog das Orchester den Chor oder umgekehrt. Das Ideal Strawinskys ist der glasklare Klang – und dem ließ Blomstedt schon im eröffnenden Spielfigurenpräludium seinen Lauf. Das fast übermütige Fließen der Bläser unterbrach er mit einem so schillernden wie herben Akkord, der wie eine Säule im Satz fungierte. Dass Strawinsky große Mühe damit hatte, die instrumentale Fuge, mit der der zweite Satz beginnt, zu komponieren, war dieser Aufführung nicht anzumerken, so luzide klang dieses kontrapunktische Dickicht in ausschließlich hoher Lage unter Blomstedts Leitung. Wie ernst es alle in dieser Aufführung mit der Gleichbehandlung von Orchester und Chor nahmen, war z. B. zu hören, als die Hörner den Themenkopf der Instrumentalfuge wie eine zusätzliche Stimme der Chorfuge hinzufügte. Wie verzückt sang der von André Kellinghaus glänzend einstudierte Sächsische Staatsopernchor Dresden das „Alleluia“, mit dem der dritte Satz begann. Eine stürmische Jagd durchbrach die Andacht zunächst. Doch am Ende fanden sich Chor und Orchester im „Tranquillo“ in ein breites Hinströmen der Musik ein. In Euphonie kam die stille Lobpreisung zu Gehör.

Mit Bruckners Sechster Symphonie erklang eines der Werke, mit deren Aufführung ich Blomstedt zu bewundern begann. Erst in den letzten Takten ließ er die Symphonie an ihr Ziel kommen. Doch ordnete er nicht alles andere dieser Teleologie unter wie viele seiner Kollegen. Im Unterschied zu anderen Aufführungen dieses Werkes maß Blomstedt auf dem Weg dahin wirklich jeder vermeintlichen Kleinigkeit größte Wertschätzung und Hingabe bei. Allein mit welcher Vielfalt er die ständigen Wechsel von Duolen und Triolen belebte und die Vielfalt der Punktierungsarten des Rhythmus im Kopfsatz beseelte, wäre eine eigene Studie wert. Von der Innbrunst, mit der er die „Gesangsperioden“ mit all ihren Kontrapunkten und glühenden Nebenstimmen zelebrierte, gar nicht zu sprechen.

Herbert Blomstedt
© Matthias Creutziger | Staatskapelle Dresden

Wenn im Kopfsatz so plötzlich wie unerwartet das Hauptthema in Es-Dur hineinkracht, der Tonart, die im Quintenzirkel A-Dur genau entgegensteht, dann ließ sich das nicht anders denn als ein Mysterium tremendum hören. Und aus dieser Katastrophe entwickelte Blomstedt den gesamten Fortgang des Werkes. Der erste Satz endete mit einer „Feier des Wohlklanges“. Das Anfangsmotiv des Hauptthemas schwebte wie im luftleeren Raum, und keine Dissonanz störte diese Euphonie der Dreiklänge, deren Aufeinanderfolge scheinbar an kein Regelwerk mehr gebunden ist. Hatte Bruckner in diesen Klängen seinem Traum vom Paradies die Töne geschenkt – und hat Blomstedt diesem Traum kongenial Gehör verschafft? Es gab wohl keinen im Saal, der bei dieser tönenden Vision keine Gänsehaut bekommen hat!

Das Finale verglich Blomstedt selbst einmal mit einer Orgelimprovisation. In dieser Aufführung fasste er den Satz aber eher als ein großes Drama auf, in dem drei Motive, die vorsichtig zu Beginn suchenden Tonleitern, die großen Fanfaren und ein quicklebendiges Treibemotiv in ständigem Wettstreit miteinander auf die Coda zielen. Die Eingangstriolen des Kopfsatzes kündigten das Ende an, aber erst als der Beginn des Hauptthemas vom ersten Satz, nun endlich all’ seiner dunklen Töne entledigt, im hellen A-Dur erklang, in dem es im Kopfsatz so klar nie zu hören war, hatte die Aufführung ihr Ziel erreicht. Doch Bruckner feierte dieses Ende nicht, sondern brach die Musik regelrecht ab und ließ das Ende so im Grunde doch offen; denn was danach kommt, weiß niemand. Blomstedt folgte ihm und ließ die Musik wie in die Unendlichkeit strömen. So erklärte sich für mich, dass er das Ende des ersten Satzes, mit dem doch eine ganze Symphonie hätte gekrönt werden können, als eine Vorsehung und Verheißung dessen musizieren ließ, was am Ende nicht in die Realität zu holen war.

Herbert Blomstedt mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden
© Matthias Creutziger | Staatskapelle Dresden

Blomstedt war nach der Aufführung sichtlich erschöpft, aber glücklich. Rührend die Geste an das Publikum: „Ihr seid jetzt an der Reihe.“ Großer Beifall aller, die hochkonzentriert einer Aufführung lauschten, die wohl niemand so schnell vergessen wird...

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