Der Starregisseur Peter Sellars, ein gern gesehener Gast in Amsterdam, hatte Tränen in den Augen als er in kleinem Kreis von seiner Arbeit an Perle Noire: Meditationen für Joséphine erzählte. In diesem fast zwei Stunden dauernden Stück experimentellen Musiktheaters bringt er laute Gesellschaftskritik auf die immer noch bestehende Rassendiskriminierung in den USA und anderswo auf die Opernbühne. Gleichzeitig schaut er mit einem ungemein einfühlsamem Blick hinter die glamouröse Fassade einer mittlerweile zur Ikone avancierten erfolgreicher Entertainerin. In der Sängerin Julia Bullock hat Sellars dabei eine einzigartig mutige Hauptdarstellerin und Mitstreiterin gefunden.

Julia Bullock
© Ruth Waltz | Dutch National Opera

Die amerikanische Sopranistin Julia Bullock, die gegenwärtig in Berlin wohnt, wird als eine der progressivsten Stimmen ihrer Generation gefeiert. Sie verbindet ihr soziales Engagement und Aktivitäten als Radiomoderatorin und Artist-in-Residence des Metropolitan Museum of Art nahtlos mit ihrer Karriere als erfolgreicher Sängerin.

Die Songs von Josephine Baker hatte sie schon lange in ihrem Repertoire. Ein Schlüsselerlebnis hierzu war die Bemerkung eines ihrer Gesangslehrer, der sie mit Baker verglich. In Perle Noire beleuchten Bullock und Sellars das Leben und die Kämpfe dieser Ikone – erfolgreiche Künstlerin, Bürgerrechtlerin und Heldin des französischen Widerstands – aus heutiger Sicht. Bullock schlüpft dafür nicht nur stimmlich in die historische Rolle, sondern stellt sich der Herausforderung auch auf dem Tanzboden. Zusammen mit dem Bewegungscoach Michael Schumacher entwickelte sie zu diesem Zweck eine sehr persönliche Choreographie, in der Intimität, Rollenspiel, emotionale Ausbrüche und rührende Verletzlichkeiten einander abwechseln und mit der sie das Publikum erst fasziniert und später bedrückt und beschämt macht. In den Tanzszenen entfernt sich Bullock wohl am Weitesten von ihrem Idol, wagt sich aber gleichzeitig unerschrocken auf unerschlossenes Theaterneuland.

Julia Bullock
© Ruth Waltz | Dutch National Opera

Der in Newark geborene Komponist und Multiinstrumentalist Tyshawn Sorey (geb. 1980) hat sieben Songs aus dem Repertoire der Baker als Ausgangspunkt für seine teils frei notierten Kompositionen genommen. Er verknüpft in seinem Werk Komposition und Improvisation, wobei er dafür lieber die neutralere Bezeichnung ,spontanes Musizieren‘ gebraucht. Das stellt hohe Anforderungen an das Einfühlungsvermögen aller beteiligten Musiker und hinterlässt in jeder Aufführung eine unvergleichbare Note und individuellen Flair.

Julia Bullock und Tyshawn Sorey
© Ruth Waltz | Dutch National Opera

Neben Sorey auf dem Klavier und am Schlagzeug saßen fünf Musiker des vor 20 Jahren errichteten International Contemporary Ensemble breitgefächert auf der Bühne. Das US-amerikanische Ensemble setzt sich für eine neugierigere und engagiertere Präsentation von zeitgenössischer Musik ein. Als (auch finanzieller) Initiator von Kompositionen fördert es engagierte Künstler auf ihrer Suche nach neuen Wegen, Musik zu machen und zu erleben. Die 35 Mitglieder des Ensembles treten als Solisten, Kammermusiker, Auftragskomponisten und in Zusammenarbeit mit den bedeutendsten Musikern unserer Zeit in Erscheinung.

Auf der Varieté-artigen einfachen Bühne sind die Musiker durch die Treppe eines kleinen Podestes räumlich voneinander getrennt. Erst als sich im letzten Bild der Vorstellung die Geigerin Jennifer Curtis und die drei Holzbläser von ihren Pulten lösen und einzelne Requiemmelodien auf die am Boden liegende Bullock anstimmen, löst sich die Handlung aus konzertanter Atmosphäre hin zu szenischem Spiel. Musikalischer Höhepunkt von Perle Noire ist das Schlaflied, in dem sich Bullock jenseits ihrer gewaltigen körpergetragenen Stimme auf zauberhaft gesummtes Flüstersingen vorwagt und damit mühelos die Zeit anhält.

Julia Bullock
© Ruth Waltz | Dutch National Opera

Die US-amerikanische Lyrikerin Claudia Rankine, Autorin von fünf Gedichtbänden, darunter Citizen: An American Lyric, hat die bildreichen Zwischentexte geschrieben, die die sieben Meditationen miteinander verbinden. Rankine hat sich schon in früheren Werken mit der rassistischen Vergangenheit ihrer Heimat auseinandergesetzt. Für Perle Noire musste sie erst ihre eigenen Vorurteile gegenüber der die Stereotypen bedienenden Baker überwinden. Was sie danach hinter Bakers schillernder Fassade entdeckte und in bewegende Sätze umformte, gibt der Vorstellung die moralische Aussagekraft, die sie verdient.

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