„Zu schauen kam ich, nicht zu schaffen“ skandiert Wotan im Siegfried – der einst so übermächtige Gott hat ausgedient. In einer Art treuhänderischen Abwicklung seines ehemaligen Imperiums wird schnell klar: Er ist überflüssig geworden. Zu lang schon war er an der Macht; nun ist es an der Zeit, dass ein Generationenwechsel stattfindet. Er kann die Geschehnisse nicht mehr direkt, lediglich indirekt durch Beeinflussung der Subjekte Mime und Alberich lenken. Doch statt des so bedeutsamen Schlüsselmoments, dem Zwiegespräch mit der Wissenswette, gerät die Szene bei Dmitri Tcherniakov zum belanglosen, banalen Kaffeeklatsch im Altenheim, bei denen die nochmals gealterten Wotan und Mime wie zwei Greise, alt und tattrig, zum Fünfuhrtee in Erinnerungen schwelgen.
Anfänglich waren Alberich und die Wälsungen die Subjekte seiner Experimente, nun beobachtet Wotan Siegfried, vergisst dabei aber, dass er ihn – den freien Helden – nicht lenken kann. Wotan darf nicht eingreifen, doch er kann es nicht lassen, sich Siegfried mehrmals durch den Einwegspiegel, den Mimes Heim (der gleiche offene Korpus, ehemals Hundings Hütte) und Wotans Büro verbindet, zu offenbaren – was auch Siegfried bemerkt, bei ihm jedoch aufgrund Tcherniakovs widersprüchlicher und inkonsequenter Regie keinerlei Eindruck macht. Diese widersinnigen, nicht gerade von dezidierter Kenntnis der Ringdichtung zeugenden Kontinuitätsfehler, häufen sich auch im dritten Teil der Tetralogie. Zu sehr scheint Tcherniakov seine eigene Geschichte erzählen und dem Ring seine eigene Interpretation aufzwingen zu wollen.
Er dekonstruiert die Räume des Forschungszentrums, welches von Fafner zum Ort seiner Neidhöhle erkoren wurde, immer mehr. Statt das anfänglichen Labyrinths aus unzähligen Zimmern und Etagen, gestaltet er nun einen sich unentwegt drehenden Korpus, welcher auch Einblicke hinter die Kulissen gibt. Das ständige sich bewegen Müssen und die vielen Requisiten, die Tcherniakov seinen Sänger*innen zur Hand gibt, lenken diese zu sehr ab, sodass immer wieder Einsätze verpasst werden und Halbsätze nicht gesungen werden können – nicht zuletzt lenkt dies stark von der Musik ab.
Siegfried muss das Kindsein erst von sich abstreifen, bevor er furchtlos Erwachsen sein kann. Also zerschlägt er Mimes Heim in wildem Zerstörungswahn; feierlich verbrennt er das Mobiliar und sein Spielzeug, um so geradezu zeremoniell und metamorphisch den Übergang in das Erwachsensein einzuleiten.
Andreas Schager, dessen Paraderolle zweifelsfrei eben dieser wild umherlaufende, hyperaktive Siegfried ist, hat mit seiner Darstellung einmal mehr gezeigt, dass er der Langstreckenläufer unter den Tenören ist. Schier unerschöpflich bestritt er den Abend und ließ bis zuletzt keine Ermüdungserscheinungen vermuten. Seine Stimme verfügte über Klarheit und Stahlkraft, die man bei vielen Heldentenören oft vermisst und so war er lediglich mit hie und da ausbrechenden Tönen nachlässig bei der Melodieführung, was seinem offenen und frei fließenden Gesang jedoch kaum minderte.
Was Stephan Rügamer als Mime im Rheingold bereits andeuten konnte, vermochte er nun im Siegfried vollends zu beweisen. Der Charaktertenor mit überaus markanter, zugleich kraftvoller und differenzierter Stimme, wusste den Nibelungen überzeugend darzustellen. Auch er reihte sich in das überaus hochkarätige Ensemble dieses Rings trefflich ein.
Anja Kampe, die mit dieser Vorstellung ihr Siegfried-Brünnhilden Debüt gab, bestach mit gefühlvoller, einnehmender Darstellung. Ihr raumgreifender, aber wenig dramatischer Sopran unterlag mitunter den hohen Anforderungen dieser Rolle. Ihre lyrische Stimme geriet in den Höhen ins Flackern und driftete so in unsaubere Artikulation und nur mäßig saubere Aussprache ab.
Der Waldvogel, vortrefflich mit warmer, agiler Sopranstimme gesungen von Victoria Randem wurde von Tcherniakov zur Kinderpsychologin degradiert, die mithilfe Rorschach-ähnlicher Techniken, Siegfrieds Erinnerungen anzuzapfen versuchte und zu eigenständigen Handeln erziehen mochte.
Christian Thielemann und die Staatskapelle Berlin verfolgen weiter ihren dramatischen Bogen und so steigerten sie sich nochmals in Dramatik, Dynamik und einem überaus spannungsreichen und aufbrausendem Dirigat; schon allein dank ihnen ist dieser Ring – und das steht spätestens mit diesem Siegfried fest – ein überragendes musikalisches Erlebnis ist.
Doch Tcherniakovs Regie – anfänglich mit interessanten Ideen begonnen – schlägt nun in Ernüchterung um. Besonders Siegfried offenbarte viele Momente des Leerlaufs, in dem wenig Handlung oder Deutung stattfinden. Wahrscheinlich müsste man selbst vom Blut des Drachen kosten, damit sich dem Zuschauer seine Intentionen offenbaren. So bleibt ihm nur die Götterdämmerung, um vielleicht doch mit einem einschlagenden Finale aufzutrumpfen.