Eigentlich wähnen wir die Pandemiespuren ja hinter uns; und trotzdem setzten Covidfolgen und Frühlingsgrippe die letzten Proben zu Richard Wagners Siegfried am Landestheater Coburg gewaltig unter Druck. Zum Glück aber konnte ein Einspringer für Siegfried noch am Flughafen abgefangen werden, und ein Waldvögelein des Landestheater Niederbayern lieh der hier indisponierten Sängerin ihre Stimme. Proben ohne die Titelfigur: Generalmusikdirektor Daniel Carter behielt Nerven und Überblick, und so konnte die Premiere am Sonntagabend mit dem magischen Raunen von Fagotten, Kontrabass-Tuben und Pauken voller Stimmung beginnen.
Dass sich das Ensemble eines Landestheaters in einem Haus vor etwa 500 Zuhörern der Herausforderung eines Ringzyklus stellt, muss uneingeschränkt bewundert werden, zumal auch die meisten Solisten seit langem in diesem Theater wirken. Wegen der Maße des Orchestergrabens hatte Carter sich schon bei der Walküre für eine um 1930 vom ehemaligen Coburger Kapellmeister Gotthold Ephraim Lessing erstellte Orchesterfassung entschieden, die neben reduzierten Streichern je drei Hörner- und Holzbläser-Pulte (an Stelle von vier) vorsieht, dazu Wagnertuben und Basstrompete in den Klang einbindet. Carter ließ viele feine Details im Orchester hören, ohne sich darin zu verlieren; er forderte von den Musikern immer wieder große Bögen, deren musikalischer Sog die Hörer mitriss. Sein eher ruhiger Impuls unterstützte die Sängerinnen und Sänger, Sicherheit in der Tongebung wie im Spiel zu finden. Auf diesem fein gewirkten Klangteppich war die Textverständlichkeit absolut frappierend und bedeutsam. Die großen Aufwallungen, wie das Vorspiel zum 3. Aufzug, durften dann umso gewaltiger ihre Ausstrahlung entfalten.
Nicht ohne Grund wird Siegfried oft als Scherzo im vierteiligen Ring des Nibelungen bezeichnet; zwischen Märchen und Komödie spielt das immer wieder tempogeladene Geschehen, die aus dem Ruder laufende Erziehung des Ziehsohns mag ebenso amüsante Blüten treiben wie am Ende ein ekstatischer Liebesdialog zu einem der wenigen schwärmerisch glückseligen Momente im Ring wird. Wie schon in Rheingold und Walküre ist Alexander Müller-Elmau für Inszenierung und Bühnenbild verantwortlich, dessen symbolträchtiges Mobilar von schwarzen Folienwänden umgeben wird. Mime, Schmied und Ziehvater des Siegfried, werkelt in einem eher elektrochemischen Labor; recht unordentlich stehen Gehäuse mit Schaltungen herum, blinken Leuchtdioden wie in experimentellen Versuchsaufbauten. Die Suppe für Siegfried wird dagegen auf einer altmodischen Kochplatte gewärmt. Siegfried, in jugendlicher Ungeduld der einfallslosen Kost überdrüssig, feuert das Küchengeschirr durch den Laborraum; er trägt einen Elektroden-Helm, den Mime an die Elektronik anschließt. Offensichtlich sollen da nicht nur Hirnströme gemessen, sondern noch Stromstöße gesetzt werden: ein starkes Bild dafür, dass Siegfried für Mimes eigennützige Interessen manipuliert werden könnte. Stark brodelt es auch in einem großen Fass, in dem allerlei Alt- und Schwertmetall landen; und als Mime ihm sein Spielzeug nicht schmieden kann, greift Siegfried selbst in die Stahlsuppe und zieht einen kleine blitzblanke Pistole heraus. Fragendes Räuspern im Parkett.
Dass Siegfried dann vor einem überdimensionalen Spiegel sinnt über sich und seine Eltern, wie der Spiegel wegschwebt und den Blick freigibt in einen Trichter von drei Metern Durchmesser, durch den der Riese Fafner zu ihm spricht, prägt sich wiederum tief ins Gedächtnis ein. Und in das riesenhafte goldene Gehirn aus dem Rheingold, das sich von der Decke herabsenkt, schießt Siegfried dann sogar mit seinem Revolver: den Elektrodenhelm wegreißen, die anonyme Überwachung ausschalten, um den eigenen Weg selbst zu bestimmen.
Der Walkürenfelsen als beruhigendes rotes Gemälde im dritten Aufzug, davor Wotan im Disput mit Erdmutter Erda: sie im verschlissenen Hoodie und abgetragener Regenjacke, er im schon bekannten, weit wallenden weltmännischen Zobel-Mantel (Julia Kaschlinski), zumindest darin noch im Zeichen alter Autorität. Seinen Old-School-Speer zerschlägt ihm der ungestüme Siegfried beim Aufeinandertreffen. Nun bekommen die durchs Bild streifenden Beobachter, die in den vorigen Abenden rätselhaft blieben, erste Aufgaben im Spiel: sie versuchen, die von den Nornen verknoteten Lebensfäden zu entwirren. Und ihre Aufgabe soll am Abend der Götterdämmerung noch klarer werden.
In der fordernden Rolle des Mime glänzte Simeon Esper mit ungeheurer Spielfreude, der dem Zwerg viel Menschliches verlieh, indem er hässliche Töne noch schön sang und geradezu mustergültig prononcierte. Ebenso gewandt manipulierend im Spiel mit fülligem Bass Mimes Bruder Alberich von Martin Trepl, dessen glänzender Anzug keine Spuren harter Körperarbeit zeigte. Bartosz Araszkiewicz hatte als Fafner den nackten Wurm wunderbar wörtlich zu nehmen. Michael Lion sang den Wanderer mit herrlich satten und ruhevoll wohlklingenden Wotantönen. Aus dämpfender Kulisse gab Claudia Bauer dem Waldvogel Francesca Paratores den zwitschernden Ruf.
Der amerikanische Tenor Patrick Cook gehört seit 2020 dem Ensemble der Deutschen Oper Berlin an. Gerade von einer Infektion genesen, konnte er über zweieinhalb Akte mit wundervoll jugendlichem, hell timbriertem Heldentenor überzeugen, sanft nachdenklichen Passagen im Piano, mit vorsichtig eingesetzten Spitzentönen, aber wildem Ungestüm im Spiel. Zu Schonung seiner Stimme übernahm Zoltán Nyári kraftvoll die Gesangspartie in der abschließenden Szene mit Wotans in Schlaf versetzter, nun erwachender Lieblingstochter. Hier sang wieder Åsa Jäger eine kerngesunde, strahlende Brünnhilde, deren unerschöpflich scheinende stimmliche Kapazitäten ein weiteres Mal atemberaubend waren.
Ein Fest von reichem Stimmenglanz! Und Szenen wie Siegfrieds Spiel mit einem orangenen Luftballon, die zum Schmunzeln anregen; Irritationen, die zum Nachdenken zwingen: ein Ring beginnt sich zu schließen, Bilder sich zu erschließen. Auf die kommende Götterdämmerung dürfen wir mit Recht gespannt sein!