Die Handlung lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen: Ein Naturbursche, aufgezogen von einem zwielichtigen Ziehvater, schmiedet sich ein Schwert. Damit bringt der Furchtlose zuerst einen monströsen Drachen, dann seinen Ziehvater um, der ihm nach dem Leben trachtet. Ein Waldvöglein führt den Burschen anschließend zu einem feuergeschützten Felsen, wo er die Frau seines Lebens entdeckt und erobert. Um diese Geschichte zu erzählen, braucht Richard Wagner fast viereinhalb Stunden Zeit. In seiner Oper Siegfried herrscht ein krasses Missverhältnis zwischen Handlungsdichte und Aufführungsdauer. Dies stellt für jeden Regisseur und jeden Dirigenten eine gewaltige Herausforderung dar.
Am Opernhaus Zürich schmieden Intendant Andreas Homoki und Generalmusikdirektor Gianandrea Noseda seit Frühjahr 2022 an einer Neuproduktion der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Nach dem Rheingold und der Walküre bleiben sie auch bei Siegfried ihren Ansätzen treu, die sie in den beiden Vorgängerwerken eingeschlagen haben. Mit unterschiedlichem Resultat. Während Homokis Absicht einer Nichtinterpretation nach wie vor problematisch bleibt, bewährt sich Nosedas Ansatz eines schlanken und durchhörbaren Orchesterklangs auch diesmal.
Noseda, den Homoki nicht zuletzt mit der Aussicht auf eine Ring-Neuproduktion nach Zürich gelockt hat, bringt mit der Philharmonia Zürich eine erfrischend neue Sicht auf Wagners szenisches Hauptwerk zustande. Dem Italiener und Wagner-Neuling schwebt – wie er in einem Interview gesagt hat – ein „bellinesker” Orchesterklang vor, also einer, der auf Kantabilität und Leichtigkeit aufgebaut ist. Trotz der imposanten Anzahl an Blechbläsern kommen auch das Holz und die Streicher wunderbar zum Zug. Und die Sänger auf der Bühne werden nicht, wie so oft, vom Dröhnen aus dem Orchestergraben weggefegt. Bei aller Energie, die immer wieder zu kräftigen Höhepunkten führt, musiziert Noseda nie mit dem Zeigefinger. Also nicht: „Hört, Leute, hier kommt nun das Siegfried-Motiv”. Die omnipräsenten Leitmotive, die den Kern von Wagners sinfonischer Klangsprache bilden, entfalten sich ganz natürlich und gehen fließend ineinander über. Wenn diese Zürcher Interpretation Schule machen würde, wäre tatsächlich ein Paradigmenwechsel in der musikalischen Wagner-Interpretation erreicht.
Homokis Stärke liegt in der Personenführung. Er begegnet der Handlungsarmut von Siegfried dadurch, dass er die Figuren wie beim Sprechtheater mimisch und gestisch lebhaft dialogisieren lässt. Spannend ist das schon im ersten Akt, wenn Siegfried seinen Ziehvater Mime bedrängt, ihm die Namen seiner Eltern preiszugeben. Oder im zweiten Akt, wo sich der Nibelungenkönig Alberich und der gescheiterte Gott Wotan, die Strippenzieher der Tetralogie, verbal duellieren. Oder am Schluss der Oper, wo die erst scheue und dann umso leidenschaftlichere Annäherung zwischen Siegfried und Brünnhilde zum packenden Erlebnis wird.
Auch in Siegfried begegnen wir, wie bei den vorherigen Stücken, dieser Drehbühne des Ausstatters Christian Schmidt, die verschiedene Innenräume zeigt. Die ganze Handlung spielt sich in einem großbürgerlichen Haus aus dem 19. Jahrhundert ab. Walhall? Die Villa Wesendonck? Die ehemals weißen Wände sind jetzt aber schwarz, und die überdimensionalen Tische und Stühle umgekippt. Da ist inzwischen offensichtlich etwas schiefgelaufen. (Klar, der von Wotan und Alberich gleichermaßen begehrte Ring, der Macht über die Welt verleiht, wird nun vom Ungetüm Fafner in einer Höhle bewacht.) Die spärlichen Requisiten sind teils realistisch wie Mimes Schmiede oder das Lavagestein des Brünnhildefelsens, märchenhaft-phantastisch wie der Disneyland-Drache oder augenzwinkernd-ironisch wie das Pferd Grane als Schachfigur. Es herrscht also ein Eklektizismus, der einen etwas ratlos macht. Und man fragt sich, was denn das alles zu bedeuten hat.
Aber Homoki will eben nicht deuten. Sein Credo lautet erklärtermaßen Befreiung der Inszenierung vom (insbesondere braunen) Ballast der Interpretationsgeschichte. Dies ist ein durchaus möglicher Ansatz, aber er kann auch als etwas drückebergerisch, als eine Art von schweizerischer Neutralität, aufgefasst werden. Und manchmal ergeben sich doch unfreiwillige Deutungen. Etwa wenn alle drei weiblichen Figuren des Stücks, das Waldvöglein (Rebeca Olvera), die Urmutter Erda (Anna Danik) und selbstredend Brünnhilde in weiße Gewänder gehüllt sind, während bei den Männern die dunklen Farben vorherrschen. Verheißt dies nicht die Erlösung der Welt durch die Frauen?
Nachdem man Camilla Nylund als Brünnhilde bereits in der Walküre kennengelernt hat, war man höchst gespannt auf Klaus Florian Vogts Rollendebüt als Siegfried. Er verkörpert nun die Titelrolle nicht als teutonischen Schläger, sondern als sensiblen, neugierigen und empathischen Jüngling, den man sofort ins Herz schließt. Seine Tenorstimme ist nicht vom hochdramatischen, sondern eher vom lyrisch-dramatischen Fach. Dazu passt der helle, ausdrucksstarke Sopran von Nylund ausgezeichnet. Und beide fügen sich nahtlos in das musikalische Konzept Nosedas. Bei der Besetzung des Nibelungenzwergs Mime zeigt sich Homokis Neutralität am deutlichsten: Ja nicht den buckligen Juden zeigen zu wollen, wie das in der braunen Vergangenheit üblich war, scheint seine Devise zu sein. Bei Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ergeben sich keinerlei solche Assoziationen, und dennoch steckt seine Interpretation voller Witz und Humor. Tomasz Konieczny als Wotan hat sich im Vergleich zum Rheingold merklich gesteigert: ein stimmgewaltiger Machtmensch, dessen Autorität abgedankt hat. Und Christopher Purves erscheint als bedrohlicher Bösewicht, dem noch einiges zuzutrauen ist. In der Götterdämmerung, der vierten Oper des Rings, wird er es dann über seinen Sohn Hagen nochmals versuchen.