„Ich bin eine Insel“: der dies von sich sagt, ist eigentlich ein Genie, entschlüsselt die Enigma-Codes geheimer Kommunikation der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg, durchdenkt die Abläufe digitaler Prozesse schon vor deren Entwicklung. Alan Turing, vor 110 Jahren in London geboren, ist aber auch schwul, passt so gar nicht in das Genrebild, das sich staatliche Aufsicht von wichtigen Wissenschaftlern macht. Wegen seiner Homosexualität musste er sich in seiner Heimat Großbritannien einer demütigenden Hormon-Behandlung unterziehen, die ihn 1954 in den Selbstmord trieb.
Erst 20 Jahre nach Turings Tod durfte über die geheime Denkfabrik zur maschinellen Entschlüsselung in Bletchley Park, 70 Kilometer von London in der Grafschaft Buckinghamshire gelegen, berichtet werden, wurde der enorme Beitrag bekannt, den Turing und andere „Codebreakers“ zum Sieg der Alliierten geleistet hatten. So ist es bemerkenswert, dass der deutsche Komponist Anno Schreier und der Librettist Georg Holzer, Dramaturg am Staatstheater Nürnberg, mit ihrer neuen Oper ein Denkmal setzen für Alan Turing. Beide haben sich intensiv in die spärliche Literatur über den Mathematiker eingelesen; Jens-Daniel Herzog, Generalintendant des Staatstheaters, hat bei der vielbeachteten Uraufführung von Turing Regie geführt, prägnante Rollenportraits erarbeitet für die Spezialbegabung dieses sonderbaren Zeitgenossen ebenso wie für die eher „normalen“ Charaktere seiner Umgebung.
In einer sehr straffen Bilderfolge, von zusammen nur etwa 100 Minuten Dauer, werden prägende Lebenssituationen beleuchtet, wichtige Freunde eingeführt: der Tod seines geliebten Freunds Christopher während des Studiums, Teamwork in Bletchley Park, Churchills die Motivation befeuernde Laborbesuche, emotionaler Umgang mit seiner Universitätskollegin Joan, die ihn trotz seiner Neigung heiraten und vor Repressionen schützen möchte. Eine verhängnisvolle Affäre mit dem Kleinkriminellen Arnold folgt, ein skurriles polizeiliches Verhör, sein Selbstmord nach der Einnahme von Östrogenen, die seinen Körper aufgeschwemmt und ihn depressiv gemacht hatten. Dies wird ohne Umschweife erzählt, kaum dass viel Raum zur Reflexion bleibt. Nur in intimeren Momenten, im nachdenklichen Gespräch mit Mutter Turing oder der zuverlässigen Gefährtin Joan, kommt ein Innehalten zustande, können Gefühle und Wünsche formuliert, gar gezeigt werden, lüftet sich der Schleier einer nach außen zur Schau getragenen Charakterstärke. So gewinnt gerade das finale Drittel der Oper überzeugende Kraft: „Solange ich denke, bin ich noch ich“, macht Turing sich selbst Mut.
In diesen Momenten wird auch Anno Schreiers Musik zärtlich, zeigt melodiöse Momente, beginnt zu schweben. Der kontrastreichen Szenenfolge entsprechend ist sie sonst meist plakativ, in ausdrucksstarker Rhythmik eingebettet, mit einem abwechslungsreichen Mix stilistisch von Minimal Music zum Rockmusical, British Brass Band zu Anklängen barocker Passionen. „Ich habe mir das Ganze wie einen großen, opernhaften Comic vorgestellt“, führt Schreier im Programmheft dazu aus.
Die Bühne von Mathis Neidhardt rückt die Silhouette von Turing schon vor dem ersten Ton ins Zentrum. Geschickt baut er eine Folge von Kulissen in die Tiefe des Bühnenraums, deren Begrenzung immer variable Projektionen von Turings Portrait sind, fast wie Schattenrisse sinnstiftend seinen Kopf im Mittelpunkt halten.
Mit Martin Platz hat das Staatstheater eine ideale Verkörperung von Alan an Bord: mit wunderbar lichter Tenorhöhe brachte er die Musik zum Sprechen, in schauspielerischer Glanzleistung gab er den Facetten Turings pulsierendes Leben. Herrliche Szenen, wenn er mit Joan fast schüchtern den gemeinsamen Weg auslotete, im Kollegenkreis über geniale Dinge fachsimpelte, die keiner verstehe; oder bei der Fahrrad-Reparatur insistierend dozierte, dass ein Naturgesetz die Kette vom Kranz springen ließe.
Ein mütterlich-schützendes Gen, etwa wie bei Ellen Orford in Brittens Peter Grimes, zeichnet auch Alans Arbeitskollegin Joan aus; und wie bereits dort machte Emily Newton eine brillante Studie ihrer Zuneigung zu Alan daraus: in einfühlsamem Spiel ebenso wie in ihrem intensiv warm timbrierten Sopran, der zuweilen zu arios geriet, was das Verständnis von Texten erschwerte. Als unbeirrbare Mutter Turing begeisterte Almerija Delic mit glutvoll farbenreicher Stimme.
Nicolai Karnolsky parodierte seinen Churchill glänzend, brachte würzig komödiantische Züge in sein Auftreten und seinen Redefluss. In ihren lebendigen wie leidenschaftlichen Parts gefielen auch Mykhailo Kushlyk als Arnold und Wonyong Kang als Turings Kommilitone Max.
Ein (später sogenannter) Turing-Test sollte zeigen, ob Madame KI, Sinnbild künstlicher Intelligenz, ein Mensch oder doch Computer, also eine Maschine mit dem Menschen gleichwertigem Denkvermögen ist. Auch wenn es letztlich offen blieb: Andromahi Raptis’ wundervolles Auftreten machte aus dieser Rolle den zentralen Prozessor, konterkarierte Turings digitale Gedankenwelt: „Ich bin in deinem Kopf! Erfinde mich!“ Herrlich analog kam ihre ausdrucksvolle, klar fokussierte Höhe im Auditorium an.
Guido Johannes Rumstadt inspirierte die Musiker der Staatsphilharmonie zur perfekten Klangkulisse im schnellen Revuegeschehen. Souverän präsentierten sich die Musiker im poppigen Sound ebenso wie als Bigband, faszinierten in ernsten Momenten mit intimer Tongebung ebenso wie bei fetzigem Auftrumpfen. Der Chor des Staatstheaters (Einstudierung Tarmo Vaask) agierte ebenfalls fabelhaft tonschön und agil in schnellem Spiel.
Wenn Benjamin Britten schon im Libretto genannt wird: der Vergleich zwischen den Homosexuellen Turing und Grimes drängt sich auf. Bei Britten gerät die Auseinandersetzung schließlich intensiver, letztlich berührender. Sehenswert und anspruchsvoll ist Anno Schreiers neuer Turing allemal: ein unterhaltsamer Abend mit tragischem Ende, das Empathie für die Titelfigur hinterließ. Begeisterte Zustimmung!