Dass Andris Nelsons einen besonderen Zugang zur Musik Schostakowitschs und Gubaidulinas hat, konnte er beim Gastspiel des Gewandhausorchesters Leipzig beim Musikfest Berlin einmal mehr unter Beweis stellen, wo er seine Virtuosität glänzen ließ. Sein Beethoven ist klangprächtig, aber vielleicht doch von allzu großem Respekt gebremst.
Eröffnet wurde das Konzert mit Rudolf Barschais Streichorchester-Fassung von Schostakowitschs Achtem Streichquartett, die dem Komponisten so gut gefiel, dass er sie als Kammersymphonie, Op.110a autorisierte. Bedeutungsvoll meißelte Nelsons zu Beginn die das gesamte Quartett tragende Tonfolge D–Es–C–H in den Streicherklang, das die Initialen des Komponisten in Musik setzt und imitatorisch durch alle vier Hauptstimmen geführt wurde. Latent wurde im Rhythmus der zweite Satzes angedeutet, der in einer Hetzjagd durch den Saal fegte. Im dritten Satz nahm das Orchester das initiale Tonsymbol als Eröffnungsmotiv eines grotesken Reigens; Stille im Saal herrschte, als der Solocellist im vierten Satz so schüchtern wie verzweifelt ein Klagelied aus dem Schlussakt der Lady Macbeth von Mzensk anstimmte. Mit einem freien Fugato über das D–Es–C–H-Motiv schlug das Orchester die Brücke zum ersten Satz. Es war eine angemessen resignativ-hoffnungslose Interpretation, die nur wenig Trost spendete.
Ganz anders klang die deutsche Erstaufführung von Sofia Gubaidulinas Der Zorn Gottes, in der das gesamte Orchester auf die Bühne kam. Im schweren Blech erklang das entscheidend veränderte Beethoven-Zitat „Muss es sein?“ – „Nein, es muss nicht sein“. Beethoven hatte es übrigens nicht schicksalhaft, sondern scherzhaft gemeint; denn der Kanon „Es muss sein“ bezog sich auf eine Honorarforderung. Gubaidulina aber setzt ein „nicht“ ein und komponierte ein riesiges Tonpoem darüber, wie menschliche Hybris den „Zorn Gottes“ hervorrief. Die drei großen, fast ohrenbetäubenden Steigerungen im Orchester wurden nur vorübergehend von Glockenklängen und dem Flirren der Streicher aufgehalten. Wenn die Komponistin selbst die technologische Macht als ein Grundübel ansieht, so hat sie darüber aber in einem hochtechnisierten Orchesterapparat gewütet. Gerade im Gefolge der Kammersymphonie Schostakowitschs wirkte dieser gigantische Zornesausbruch in meinen Ohren doch inszeniert – wenn auch mit großer Orchestervirtuosität aufgeführt.
Nach der Pause erklang eine konzentrierte, sehr respektvolle Aufführung von Beethovens Siebter Symphonie in einer großen Orchesterbesetzung. In ihr durften nun endlich nach den Streichern bei Schostakowitsch und dem Blech bei Gudaidulina die Holzbläser ihr Können zeigen; denn Beethoven vertraute ihnen alle Hauptthemen des Kopfsatzes an. Eine „Apotheose des Tanzes” entfaltete der Dirigent im Kopfsatz nicht, eher eine spannende motivische Studie über den daktylischen Rhythmus. Zu Recht dirigierte Nelsons den zweiten Satz nicht als Trauermarsch, sondern als eine große, sehr langsam vorgetragene Prozession. Hier ließ er das Nebenthema in den Celli herrlich aufblühen und den Rhythmus der Pavane auch im idyllischen Mittelteil des Satzes durchklingen. Das Scherzo, eine wilde Carmagnole, erklang bei Nelsons nicht als ein fast übermütiger Tanzkreisel voller Ausgelassenheit, sondern als virtuoses Spiel mit kurzen Motiven, die ständig variiert und gegeneinander ausgetauscht wurden. Im Unterschied zu den meisten anderen Dirigenten wollte Nelsons im Kontertanz des Finales keine Temporekorde brechen und setzte das Gewicht auch nicht auf Orchestervirtuosität. Stattdessen wählte er ein gezähmteres Tempo, bei dem die zum Teil krassen Dissonanzen sehr grell hervortraten, mit denen Beethoven diesen Satz schärfte. Bei einem rasenden Tempo wären sie untergegangen.