Nur wenige Tage nach der Uraufführung im Januar 1911 hatte Der Rosenkavalier auch im 1905 erbauten Neuen Stadttheater am Ring in Nürnberg Premiere. Sogar Richard Strauss selbst dirigierte dort eine Vorstellung; doch er beklagte sehr das ungenügende Niveau der damaligen Sänger und Musiker. Umso mehr zeigte er sich erfreut mit einer erneuten Inszenierung 1930 in Nürnberg, als eine bessere finanzielle Ausstattung zu überzeugenderem künstlerischen Resultat führte. Die klangsüffige „wienerische Maskerade“ des Regisseurs Heinz Lukas-Kindermann, der 1987 Christian Thielemann seinen Stempel aufdrückte, blieb mir in lebhafter Erinnerung.
Der 1980 in Hamburg geborene Regisseur Marco Štorman inszenierte bereits am Stadttheater Klagenfurt eine im historischen Milieu angesiedelte Fassung des Rosenkavaliers. In der neuen Nürnberger Produktion verbannt er nun pur und eindringlich alle gemütlichen Requisiten aus dem Geschehen. Seine Figuren sollen sich nicht mehr hinter Reifröcken und Spielregeln einer erfundenen Zeit verstecken, zwischen Klischees und Konventionen scheinbar wohlig scharwenzeln können. Das schrille Ich eines Ochs eckt mit seinem sexistisch plumpen Überschwall an, die Feldmarschallin kämpft gegen die Vergänglichkeit von attraktivem Chic, Octavian legt sich in seinen vielen Gesichtern und Verkleidungen eine Hybris von Unbesiegbarkeit zurecht. Gerade in unmittelbarem Aufeinandertreffen der Charaktere kommt so eine intensive Auseinandersetzung um Sittenzwänge und Sehnsüchte zustande.
Konsequent ist auch das Bühnenbild (Frauke Löffel, Anna Rudolph) von Kissen, Kitsch und Krempel befreit; an Stelle von Stadtpalais ein in metallischem Anthrazit und Schwarz ertrinkender Stangenwald oder nichtssagende Lamellenvorhänge, die mühsam immer wieder verstellt werden und die Konzentration ablenken. Da hätte eine leere Bühne mehr Verdichtung schaffen können. Lichtvorhänge sehen zwar blendend aus, tun es aber auch.
Für den Baron Ochs auf Lerchenau hatte man Patrick Zielke gewinnen können, der sich in Štormans Sichtweise einer multiplen Gier nach Reichtum, Standesdünkel und schneller Liebelei bewundernswert einfügte. Dass er auch ein Fall für ein #MeToo-Tribunal wäre, spielte er in Nürnberg genüsslich aus; wie er nach dem Aufdecken seiner Fehltritte hosen-, aber nicht kampflos weiteragierte, war höchste Schauspielkunst. Wenn sein Ochs nicht die schwärzeste aller Bassrollen ist, so kam sie absolut wohltönend auch aus der Horizontalen am schwarzen Bühnenboden.
Mit der Partie des jungen Grafen Octavian gab die kanadische Mezzosopranistin Mireille Lebel in Nürnberg ihr umjubeltes Debüt. Bewundernswert wie sie im Spiel mit schnell wechselnden Identitäten auch in konträre Charaktere wechselte, virtuos als Hitzsporn und jungenhaft hinter nonchalant unbedarftem Plauderer den Wirbelsturm eigener Gefühle verbarg. Mit vielschichtig farbigem Mezzo gestaltete sie wie in einer Parallelwelt berührende Einsichten des inneren Zwiespalts.
Für Emily Newton war die Partie der Feldmarschallin eine persönliche Premiere. Im turbulenten Getöse ihres Hofstaats kam ihr dezent eingesetzter Sopran oft nicht zur Geltung. Im Finale des ersten Akts mit Octavian aber und im Terzett des dritten Akts, wenn das Orchester sich träumerisch weich nuancierte, erreichte sie in der resignativen Intimität ihrer Wahrheit allergrößten Charme und atemberaubende Ausstrahlung.
Sophie, Tochter des reichen Neugeadelten, der Octavians Werbung für Ochs gelten soll, muss sich am wenigsten verbiegen. So wirkt bei Julia Grüter das Entsetzen über das Schachern um Sophies Verlobung echt, kommt sie in ihrer Rolle wie ihrem Gesang klar, mit wunderschön strahlenden Höhen heraus; das Eingeständnis der Liebe zu Octavian ist im japanisch bedruckten Sweatshirt zeitgemäß ungezwungen.
Eine wunderbare Charakterstudie von Sophies Vater Faninal gelang Jochen Kupfer: sein Taktieren zwischen eigener Vorteilsuche, der Bewunderung für den adligen Baron und dem Wohl der Tochter versetzte in ein jähes Wechselbad zwischen Begeisterung und Entsetzen. Bravourös wie sein voluminöser Bariton auch in dramatischsten Orchesterstürmen klangvolle Durchsetzungskraft bewahrte! Bemerkenswert hochklassig war dazu die Besetzung der vielen Rollen in den Adelhäusern aus dem Nürnberger Ensemble.
Im Bemühen um eine möglichst schlichte und klare Tonsprache hat Strauss im Vergleich zu Elektra das Orchester reduziert: in den intimen Szenen war der Stil herrlich durchsichtig, ja kammermusikalisch. Lutz de Veer brachte hier die Staatsphilharmonie zum glutvollen Schmeicheln, um das gesungene Wort gerade in den Soloszenen der Marschallin gebührend zur Geltung zu bringen. Dagegen geriet der instrumentale Kraftaufwand in den Ensembleszenen eher zu groß, so dass die Sänger oft forcieren mussten, um im Bühnengeschehen mitzuhalten. Einige Buhrufer am Ende hätten wohl der krankheitsbedingt ausgefallenen Joana Mallwitz am Pult feinere Zeichnung zugetraut. Viel Freude bereitete der kraftvolle Staatsopernchor (Tarmo Vaask). Und der quirlige Kinderopernchor (Philipp Roosz) konnte ohne Premierenfieber die Lacher auf seine Seite ziehen!